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Vier Vorschläge für mehr Tempo in Richtung nachhaltiger Konsum

Christina Graf
Nachhaltigkeit

Der zweite Länderbericht der Schweiz zuhanden der Uno zeigt: Es braucht mehr Tempo bei der nachhaltigen Entwicklung sowie «den Einbezug der Gesellschaft als Ganzes».

Die Schweiz hat sich politisch verpflichtet, die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 umzusetzen. Zu den Prioritäten der Schweiz gehört der nachhaltige Konsum. Die Herstellung und der Transport von Gütern verursachen Treibhausgasemissionen und weitere Umweltbelastungen, beispielsweise durch Chemikalien. Konsum bedeutet zudem Abfall. So verursachte die Bevölkerung in der Schweiz 2020 rund 700 Kilogramm Siedlungsabfälle pro Person (EU-Durchschnitt 2020: 505 Kilogramm). Besonders ins Gewicht fallen Ernährung, Wohnen und Mobilität: Diese drei Bereiche machen 70 Prozent der konsumbedingten Umweltbelastung aus.

Am 12. Juli präsentierte Jacques Ducrest, Delegierter der Schweiz für die Agenda 2030, bei der Uno in New York den Länderbericht 2022 der Schweiz zur nachhaltigen Entwicklung. Die Indikatoren zeigen deutlich, dass das aktuelle Tempo nicht reicht, um die angestrebten Ziele bis 2030 zu erreichen. Wie Bundespräsident Ignazio Cassis in seiner Videobotschaft unterstrich, «kann es keine nachhaltige Entwicklung geben, ohne den Einbezug der Gesellschaft als Ganzes». Wie also kann das Tempo erhöht werden, spezifisch beim nachhaltigen Konsum? Aus der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung lassen sich folgende vier Vorschläge ableiten:

1) Soziale Praktiken durchbrechen 

Jede Konsumhandlung steht in Beziehung mit Normen, Werten, unserer physischen Umgebung sowie unseren Ressourcen und Kompetenzen. Die isolierte Betrachtung einzelner Konsumhandlungen greift deshalb zu kurz. Ein Ansatz aus der Soziologie sind Änderungsinterventionen, bei denen nicht nachhaltige Handlungen als «soziale Praktiken» verstanden werden. Dabei reflektieren die Teilnehmenden, wie diese Praktiken in ihren Alltag und in ihre Umgebung eingebettet sind. Aus dieser Reflexion entstehen Interventionen, mit denen nicht nachhaltige Praktiken verändert oder ersetzt werden.

Ein Beispiel ist das Heizen von Wohnungen im Rahmen der Energise Living Labs. In einer Änderungsintervention senkten 300 Haushalte über vier Wochen im Herbst/Winter die Temperatur auf 18 Grad. Dabei reflektierten die Teilnehmenden gemeinsam mit Forschenden Normen des «Komforts zu Hause» und diskutierten alternative Praktiken wie das Wärmen von Körpern statt von Räumen.

Referenz: Sahakian, Marlyne (2021): Sustainable consumption and social change: a social practice approach, in: Konsum: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation? (Bulletin of the Swiss Academy of Humanities and Social Sciences 27,2), pp. 29-33. https://doi.org/10.5281/zenodo.5013874 

2) Food Waste sichtbar machen 

Schweizerinnen und Schweizer schätzen ihren jährlichen Food Waste auf knapp neun Kilogramm. Und unterschätzen ihn damit deutlich: Messungen zeigen nämlich, dass jede und jeder von uns im Durchschnitt pro Jahr rund 90 Kilogramm essbarer Lebensmittel wegwirft, was auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet ungefähr 150 000 gefüllten Lastwagen entspricht.

Dass wir diesen riesigen Mengen Abfall im Alltag kaum begegnen, verdanken wir unseren perfektionierten Entsorgungssystemen. Die Kehrseite davon ist, dass wir wenig Handlungsdruck verspüren – obwohl die meisten von uns die Verschwendung von Lebensmitteln deutlich ablehnen.

Referenz: Arnold, Nadine (2021): Du verschwendest pro Jahr 90 Kilogramm essbare Lebensmittel – und jetzt?, in: Konsum: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation? (Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 27,2), S. 38–41. https://doi.org/10.5281/zenodo.4752895 

3) Handlungsorientiert kommunizieren

Vor der Zerstörung der natürlichen Umwelt und den Folgen wird seit Jahrzehnten gewarnt. Am tatsächlichen Konsumverhalten ändert das nachweislich wenig. Warum? Erstens können Angstbotschaften dazu führen, dass wir uns ohnmächtig fühlen und ein Thema gar verdrängen. Zweitens haben wir begrenzte kognitive Ressourcen, um Informationen zu verarbeiten. Wir beschränken uns auf das, was eine direkte Bedeutung für uns hat. Bedeutung wiederum entsteht durch Nähe und Emotionen. Drittens wird Wissen nur handlungswirksam, wenn es unsere Lebenswelt aufgreift und direkt im Alltag nützlich ist – wir es also in einer spezifischen Situation und unter spezifischen Umständen direkt anwenden können. Diese Prinzipien sind entscheidend für alle Kommunikationsinitiativen, die ein nachhaltigeres Konsumverhalten im Alltag zum Ziel haben.

Urner, Maren (2021): Was es für eine erfolgreiche Klimakommunikation braucht, in: ProClim Flash 74: Klimakommunikation (S. 6–7). www.proclim.ch/flash/74

4) Lebensqualität ins Zentrum stellen 

Konsum ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, mit dem wir versuchen, den Alltag zu bewältigen und ein erfülltes Leben zu führen. So kaufen wir ein neues Gadget, um uns einer Gruppe zugehörig zu fühlen, fliegen nach Südamerika, um dem Alltag zu entfliehen oder tragen eine Hose als politisches Statement in einer Gesellschaft, in der Frauen das Tragen von Hosen untersagt ist. Soziale und ökologische Belastungen entstehen durch das Mittel, nicht durch den Zweck. Darum sollte die Politikgestaltung den Zweck – die Lebensqualität – als Zielgrösse ins Zentrum stellen. Gleichzeitig kann sie die Wahl nachhaltiger Mittel unterstützen: zum Beispiel durch Information und Sensibilisierung oder durch finanzielle Anreize.

Ein Angebot für die Politikgestaltung macht das Buch «Consumption Corridors. Living a Good Life within Sustainable Limits». Im Zentrum steht das Konzept der «Konsumkorridore», die den Raum zwischen zwei Grenzen bezeichnen: einem minimalen Konsum, der genügend Ressourcen für ein gutes Leben beinhaltet (Boden), und einem maximalen Konsum, der die Möglichkeiten anderer für ein gutes Leben nicht gefährdet (Decke).

Referenzen:

Di Giulio, Antonietta & Rico Defila (2021): Sustainable consumption: from environmental concerns to including justice and quality of life, in: Konsum: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation? (Bulletin of the Swiss Academy of Humanities and Social Sciences 27,2), pp. 42-46. https://doi.org/10.5281/zenodo.5013935

Fuchs Doris et al. (2021): Consumption Corridors. Living a Good Life within Sustainable Limits, London. https://doi.org/10.4324/9780367748746

Die Geistes- und Sozialwissenschaften analysieren das Zusammenleben und Verhalten von Menschen in Raum und Zeit. Dadurch geben sie Aufschluss über die sozialen, kulturellen und rechtlichen Faktoren von nachhaltiger Entwicklung und deren Interaktion. Die vier Vorschläge zum nachhaltigen Konsum zeigen: Um den «Einbezug der Gesellschaft als Ganzes» in die Nachhaltigkeitsbestrebungen der Schweiz zu gewährleisten, ist es wichtig, dass die Politikgestaltung Erkenntnisse aus den Geistes- und Sozialwissenschaften einbezieht.

Nachhaltiger Konsum als Schwerpunkt der SAGW

Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) fördert die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in der Schweiz und setzt sich für den Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ein. Seit 2020 befasst sich die SAGW mit dem Thema «Nachhaltiger Konsum» als Schwerpunkt.

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