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Viele ältere Arbeitnehmende mit gesundheitlichen Problemen sind in ihrer Arbeitstätigkeit eingeschränkt

Fragen: Romaine Farquet (SAGW) | Redaktion: Julie Zingg (SAGW)

Viele Menschen arbeiten über das Rentenalter hinaus oder scheiden wegen gesundheitlicher Probleme vorher aus. Die ZHAW untersucht die gesundheitlichen Ungleichheiten im Kontext eines verlängerten Arbeitslebens.

Das SNF-Projekt «Gesundheitliche Ungleichheit im Kontext einer Verlängerung des Arbeitslebens» untersucht Mechanismen von gesundheitlichen Ungleichheiten, die durch eine Verlängerung des Arbeitslebens zustande kommen. Mitarbeitende der Forschungsstelle Public Health an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) arbeiten im Projekt mit unterschiedlichen Partnern ausserhalb der ZHAW zusammen. Die Partnerschaft mit dem Verein Innovage kam dank der a+ Swiss Platform Ageing Society zustande. Im Interview mit der a+ Swiss Platform Ageing Society diskutieren Sonja Feer und Isabel Baumann der ZHAW sowie Erica Benz-Steffen und Ulrich Roth von Innovage gemeinsam dieses aktuelle Thema.

Warum ist es wichtig, die gesundheitlichen Auswirkungen eines verlängerten Arbeitslebens besser zu erforschen?

In den letzten 30 Jahren hat sich der Trend weg von der Frühpensionierung hin zum Arbeiten bis zum Rentenalter oder darüber hinaus entwickelt. Viele Menschen, die am Ende ihres Berufslebens stehen, haben sich freiwillig dafür entschieden: Sie haben eine interessante Arbeit, werden von ihren Arbeitgebern geschätzt und sind fit. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Menschen, die eigentlich nicht mehr die Kraft haben zu arbeiten oder es nicht mehr wollen, dies aber aus finanziellen oder anderen Gründen tun müssen. Diese letzte Beobachtung ist in der Forschung nicht abschliessend geklärt: Welche Personengruppen haben ein besonderes Risiko unfreiwillig über das gesetzliche Rentenalter hinweg weiterarbeiten zu müssen und welche tun dies freiwillig? Das sollte besser untersucht werden. Ebenso wären weitere Studien wünschenswert, die die gesetzlichen und betrieblichen Rahmenbedingungen für einen längeren Verbleib im Arbeitsleben untersuchten.

Lässt sich bereits etwas über die gesundheitlichen Folgen längerer Lebensarbeitszeit sagen? Wenn ja, wie sehen diese aus?

Länger zu arbeiten kann sich grundsätzlich sehr positiv auf die Gesundheit auswirken. Eine Arbeit zu haben kann sinnstiftend sein, soziale Kontakte ermöglichen und dazu beitragen kognitiv flexibel zu bleiben. Eine Verlängerung des Arbeitslebens von Menschen mit gesundheitlichen Problemen kann jedoch dazu führen, dass sich sozioökonomische Unterschiede, die bereits im mittleren Erwachsenenalter entstanden sind weiter verstärken.

Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in handwerklichen Berufen, wie beispielsweise Schreinerinnen und Schreiner, haben im Durchschnitt einen schlechteren Gesundheitszustand und arbeiten mehr Stunden als Personen in nicht-handwerklichen Berufen, wie beispielsweise Büroangestellte. Das ist wissenschaftlich belegt. Treten bei Personen in handwerklichen Berufen kurz vor Erreichen des gesetzlichen Rentenalters gesundheitliche Probleme auf, ist ihre mögliche Arbeitsmarktbeteiligung stärker eingeschränkt als bei Personen in nicht-handwerklichen Berufen.

Welche Möglichkeiten bietet ein höheres Einkommen?

Personen mit einem höheren Einkommen oder Vollzeitpensum können es sich häufiger leisten vorzeitig in Rente zu gehen oder ihr Arbeitspensum in den Jahren vor der Pensionierung zu reduzieren, unabhängig von ihrem Gesundheitszustand. Sie können den Einkommensverlust bis zum Bezug der AHV mit Erspartem oder Pensionskassengeldern auffangen. Wenn sie gesundheitlich angeschlagen sind, können sie es sich leisten sich körperlich zu entlasten, indem sie beruflich kürzertreten. Personen mit tieferen Einkommen oder in Teilzeitpensen müssen weiterarbeiten, unabhängig von ihrem Gesundheitszustand. Sind sie gesundheitlich angeschlagen, verschlechtert sich ihre Situation.

Können diese sozioökonomischen Ungleichheiten verringert werden?

Ja, indem unterstützende wohlfahrtsstaatliche oder betriebliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die Invalidenversicherung oder die Altersvorsorge, die gewisse Umverteilungseffekte von höheren zu niedrigen Einkommen haben, leisten hier einen wichtigen Beitrag. In einer Studie wurde gezeigt, dass in Ländern mit einer geringen Umverteilung der Rentenleistungen wie in Deutschland die Wahrscheinlichkeit trotz schlechter Gesundheit über das Rentenalter hinaus arbeiten zu müssen höher ist. In Ländern mit hoher Umverteilung wie Dänemark ist dies deutlich seltener der Fall.

Seit wann arbeiten der Verein Innovage und die ZHAW zusammen? Und wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?

Die Zusammenarbeit entstand anlässlich einer Plenarversammlung der a+ Swiss Platform Ageing Society. Wir arbeiten seit Beginn des Projektes in allen Projektphasen zusammen: von der Formulierung der Forschungsfragen über die Interpretation der Analysen bis hin zur Kommunikation der Ergebnisse. Zu viert bilden wir eine Arbeitsgruppe, die sich regelmässig per E-Mail austauscht und sich etwa einmal im Jahr trifft. Bei Bedarf werden weitere Mitglieder von Innovage beigezogen.

Was sind die Vorteile der Zusammenarbeit?

Die Forschung erhält einen besseren Zugang zur Zielgruppe und wird auf Aspekte aufmerksam gemacht, die bisher nicht im Blickfeld waren. Zudem erhöht die Zusammenarbeit die Relevanz der Forschung, indem sie sich auf Probleme konzentriert, die ältere Arbeitnehmende und ältere Menschen tatsächlich beschäftigen. Auch die Interpretation der Ergebnisse wird verbessert, indem sie immer wieder kritisch mit der Zielgruppe diskutiert werden. Innovage hat die Möglichkeit sich an aktuellen Themen aus Wissenschaft und Forschung zu beteiligen. Relevante Themenvorschläge können eingebracht werden. Zudem ermöglicht das Projekt einen Erfahrungsaustausch zwischen den Vereinsmitgliedern und der jüngeren Generation.

Inwieweit sind die Projektergebnisse für Politik oder Praxis relevant?

Unsere Ergebnisse verbessern die Datengrundlage für Entscheidungen in der Altersvorsorgepolitik. Unsere Forschung zum flexiblen Rentenalter und zur Teilzeitarbeit im Übergang vom Berufsleben in die Rente weist darauf hin, dass eine flexible Gestaltung dieses Übergangs durchaus gesundheitsförderliche Effekte haben kann. Allerdings steht diese Flexibilität nicht allen Menschen in gleichem Masse offen. Bei der Umsetzung der AHV 21, die eine solche Flexibilisierung ermöglicht, besteht daher Handlungsbedarf.

Unser Projekt gibt zudem Hinweise darauf, welche Berufsgruppen besonders von gesundheitsfördernden und präventiven Massnahmen für Menschen am Ende ihrer beruflichen Laufbahn profitieren würden. Eine mögliche Massnahme sehen wir auf betrieblicher Ebene: Ein Job-Rotationssystem, das die Arbeitsbelastung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in manuellen Berufen reduzieren könnte.

Über die a+ Swiss Platform Ageing Society

Unter Einbezug aller relevanten Akteure betreibt die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) im Auftrag der Akademien der Wissenschaften Schweiz die offene, sektorenübergreifende a+ Swiss Platform Ageing Society mit dem Ziel substanziell und konkret zur praktischen Umsetzung der Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health der WHO in der Schweiz beizutragen. Eine wichtige Aufgabe der Plattform ist die Vernetzung von Stakeholdern, die Förderung des inter- und transdisziplinären Austauschs und die Bündelung von Informationen. Zweimal jährlich lädt das Generalsekretariat der SAGW die Partner daher zu einer Plenarversammlung ein.

Referenzen

Baumann, Isabel et al. (2022): Part-time work and health in late careers: Evidence from a longitudinal and cross-national study, in: SSM - Population Health, 18, 101091, pp. 1-12. https://doi.org/10.1016/j.ssmph.2022.101091.

Baumann, Isabel, Ariane Froidevaux und Ignacio Cabib (2022): Health among workers retiring after the state pension age: a longitudinal and comparative study, in: BMC Geriatrics, 22, 984, pp. 1-12. https://doi.org/10.1186/s12877-022-03690-4.

Baumann, Isabel und Ignacio Madero-Cabib (2021): Retirement trajectories in countries with flexible retirement policies but different welfare regimes, in: Journal of Aging & Social Policy, 33, 2, pp. 138-160. https://doi.org/https://doi.org/10.1080/08959420.2019.1685358.

Feer, Sonja et al. (2022): Health and labour force participation among older workers: a growth curve analysis, in: European Journal of Ageing, pp. 1395-1406. https://doi.org/10.1007/s10433-022-00716-z.