In den 1830er Jahren beobachtete der Ökonom Eugène Buret ein soziales Phänomen, das in Frankreich und England um sich griff: eine neue Form von Armut, die er als «Misere» bezeichnete. Er verstand darunter die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, ausgelöst durch die Frühindustrialisierung. Als Vergleich für die katastrophalen Zustände fiel Buret nur die Pest ein, auch wenn der Vergleich hinkte. Denn im Gegensatz zu Krankheiten liessen sich die Anzeichen, Ursachen und Auswirkungen sozialer Phänomene wie der zeitgenössischen «Misere» nur schwer bestimmen. Zwar waren für Buret die Effekte des fléau social – Alkoholismus, Prostitution, Libertinage – kaum von der Hand zu weisen, hatten also den Status von Fakten. Anders als die Pest äusserte sich die «Misere» jedoch nicht nur in sichtbaren Missständen, sondern insbesondere auch in «unsichtbaren Leiden» (maux invisible), die sich im Inneren der Menschen abspielten – von ihr Betroffene verschwiegen oder kaschierten häufig ihre reale Lage. Die Misere bezeichnete somit nicht nur ein bestimmtes, zu bezifferndes Ausmass von Armut – sie wurde «moralisch erlitten» (moralement sentie). Sie war sich ihrer selbst bewusst.
Kampf gegen Deutungshoheiten
Für Buret kam im Umgang mit der «Misere» ein grundlegender Wandel zum Ausdruck. Zum einen hatte die Wirtschaftswissenschaft keine Mittel, um das sich vor ihren Augen abspielende soziale Phänomen zu begreifen. Zum anderen veränderte sich die Erfahrung und der Handlungsspielraum der Armen selbst. Buret sah eine neue «aktive» und «beunruhigte» Armut entstehen: Die Betroffenen begannen, die Ursachen und Bedingung ihrer Lage selbst zu erforschen. Die «Misere», so lautete die Warnung Burets in seiner 1840 erschienenen und von der Académie des sciences morales et politiques in Paris preisgekrönten Schrift La misère des classes laborieuses en Angleterre et en France, hatte bereits ihre eigenen Theoretiker hervorgebracht. Es war eine Gegenwissenschaft entstanden, die als leidenschaftliche Forschung, als «investigation passionnée», die Deutungs- und Erklärungshoheit bestehender wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Theorien in Frage stellte. Buret selbst verstand diese leidenschaftliche Forschung als Aufforderung an ein intervenierendes Verständnis von Wissenschaft, deren Beschreibung der Wirklichkeit nicht von der politischen Praxis ihrer Transformation getrennt werden konnte.
Buret forderte ein neues Wissenschaftsverständnis, das sich der sozialen Wirklichkeit zuwendet.
In den 1830er Jahren setzte sich eine Bewegung «oppositioneller» Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der etablierten Kultur des modernen Wissenschaftsbetriebs entgegen. Die Akteure kamen häufig aus dem Umfeld der entstehenden Arbeiter- und Frauenbewegung und hatten selbst die Erfahrung der Prekarität und Misere gemacht.1 Burets Beispiel zeigte, wie ihre aktivistische Wissensproduktion in den Wissenschaftsbetrieb zurückwirkte – just in einer Zeit, als sich dort ein Ideal «guter» Forschung zu festigen begann, das vor allem die emotionale Distanz von Forschenden zu ihren Gegenständen betonte. In welchem Verhältnis stehen Aktivismus und Wissenschaft, Leidenschaft und Forschung zueinander? Um diese grundlegende Frage und dieses Spannungsverhältnis ging es Buret.
Engagement statt Interesselosigkeit
Seit dem späten 18. Jahrhundert haben sich die «moralischen Ökonomien» der Wissenschaften fundamental verändert – darüber ist man sich in der Wissenschaftsgeschichte einig. Im Zentrum steht der Aufstieg bestimmter «epistemischer Tugenden».2 Als wichtigste Kriterien von Wissenschaftlichkeit etablierten sich Objektivität und Interesselosigkeit. Die von Buret registrierten Initiativen «leidenschaftlichen Forschens» wie auch das von ihm selbst propagierte Gegenmittel einer moralisch-politischen Wissenschaft musste demgegenüber als unwissenschaftlich erscheinen. Leidenschaft, politisches Engagement, Mitgefühl und Parteilichkeit – all das scheint uns heute noch (und als Folge dieser Entwicklung) weit entfernt vom moralischen Codex «guter» Wissenschaft. Moderne Wissenschaft ist auch für Historikerinnen und Historiker meist gleichbedeutend mit jenen Wissensfeldern, in denen die Trennung von Forschung und Emotionen besonders erfolgreich verlief. Sie sind Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte. Über die Geschichte von politisch engagierten Armutsforscherinnen und Armutsforschern wie Buret wissen wir ungleich weniger.
Dabei gibt es zahlreiche Beispiele für die historische Wechselwirkung zwischen Forschung und Aktivismus. Man denke etwa an die Krankenschwester Florence Nightingale, die mit ihren statistischen Untersuchungen zum Lazarettwesen im Krimkrieg (1853–1856) zu einer der einflussreichsten Reformerinnen des Sanitäts- und Gesundheitswesens in Grossbritannien aufstieg; oder an das berühmte Hull-House-Projekt in Chicago, ein Nachbarschaftsprojekt der sozialreformerischen Settlement-Bewegung, in dem Aktivistinnen und Aktivisten wie Jane Adams, Alice Hamilton, John Dewey und Florence Kelley praktische Sozialarbeit in den Elendsvierteln Chicagos mit einer neuen, engagierten Form sozial- und naturwissenschaftlicher Forschung verbanden. Hamilton, später Professorin für Medizin an der Harvard University, stieg dabei zu einer internationalen Koryphäe in Fragen des Arbeitsschutzes und der Umwelthygiene auf. Der Philosoph und Pädagoge John Dewey verstand seine persönlichen Erfahrungen in Hull House als richtungsweisend für die Entwicklung einer auf Partizipation beruhenden pragmatischen Pädagogik.3
Auch in den sozialen Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren Wissenschaft und Aktivismus eng miteinander verzahnt: in der Frauenbewegung, der Schwulen- und Lesbenbewegung, der Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung oder der Dritte-Welt- und Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre.4
Indem sie Wissen produzierten, wollten die Aktivistinnen und Aktivisten hegemoniale politische Machtverhältnisse sichtbar machen und sie verändern.
Der zeitgenössische Begriff dafür lautete «Gegenwissen» – eine engagierte Form der Wissensproduktion, die sich gegen die bestehende Ordnung mitsamt den etablierten Wissenschaften richtete. Es sollten andere moralische Ökonomien gelebt und geteilt werden, als man sie im Wissenschaftsbetrieb vorfand. Der Ruf nach «Gegenwissen» ging deshalb häufig mit Versuchen einher, neue Formen der Wissensproduktion und -zirkulation zu etablieren: Selbsthilfegruppen und Informationsbüros für Bürgerinnen und Bürger, Do-it-yourself (DIY)-Printmedien und -Handbücher, «Gegenuniversitäten» und Piratenradios. Das Motto lautete «Wissenschaft selber machen»: «Weder Staat noch Verbände werden eine Wende bringen. Wir können nur hoffen, wenn wir selbst handeln», hiess es etwa im Gründungsmanifest des Freiburger Öko-Instituts, heute das wichtige ausseruniversitäre Forschungszentrum im Bereich Ökologie und Umweltwissenschaften.
Matters of concern: Was uns alle etwas angeht
Man könnte leicht zum Schluss kommen, dass die leidenschaftliche Forschung, die im Umfeld der sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts aufkam, auch deshalb in Vergessenheit geriet, weil sie weniger wissenschaftlich war als die etablierte Forschung an Universitäten und Akademien. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Armutsforscher Buret und die oppositionellen Wissenschaften des Vormärz, die sich im Rahmen der frühen Arbeiterinnen- und Frauenbewegung ab den 1820er Jahren formierten und im «europäischen Aufstand»5 von 1848 nach Realisierung strebten, die Krankenschwester Nightingale, die «Gegenexperten» der Anti-Atomkraftbewegung oder die feministischen Ärztinnen waren häufig geradezu besessen davon, ihre Beobachtungen empirisch einwandfrei zu belegen und ihre Daten mit den neuesten Methoden zu erheben. Häufig wurde die aktivistische Forschung sogar innerhalb von Universitäten und akademischen Institutionen mit dem Ziel einer besseren Wissenschaft betrieben.6
Die «leidenschaftlichen» Forscherinnen und Forscher verbanden ihr Interesse für das empirisch Belegbare eng mit den sozialen und politischen Herausforderungen ihrer Zeit. Man müsse den «technischen und sozialen Entwurf als Einheit sehen», proklamierten etwa die Umweltwissenschaftler des Öko-Instituts – und sprachen damit vielen Aktivistinnen anderer sozialer Bewegungen aus der Seele. Es gab für diese Art von leidenschaftlicher Forschung keine grundsätzliche Trennung zwischen Natur und Kultur, zwischen Technik und Sozialem, zwischen Wissenschaft und Politik. In Anlehnung an den Wissenschaftssoziologen Bruno Latour lässt sich sagen: Die leidenschaftliche Forschung verband ihr Interesse für die Fakten, die matters of fact, immer schon mit den matters of concern, den drängenden sozialpolitischen Fragen, die uns alle angehen.7
Heute ist in vielen Bereichen des Wissenschaftsbetriebs wieder vermehrt eine Hinwendung zu engagierter Forschung zu erkennen – oft im Scheinwerferlicht der Medien. Dass die matters of concern in vielen Bereichen längst ins Innere des Wissenschaftsbetriebs vorgerückt sind, zeigt sich wohl nirgends deutlicher als in den Diskussionen um die Klimakrise, wo ein ganzes Wissenschaftsfeld seit Jahrzehnten von unterschiedlichen Seiten ins politische Kreuzfeuer gerät.8 Auch angesichts der Debatten um Gender Studies, Corona-Pandemie, Migration, Kolonialismus und Krieg stellt sich für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Frage, wie weit sie sich politisch engagieren können (oder sogar sollen), ihre Forschung also von scheinbar wissenschaftsfremden Motiven wie sozialer Empathie oder politischer Intervention leiten lassen, und wie stark sie sich umgekehrt davor schützen müssen.
Wissenschaft und Gegenwissenschaft entstanden gleichzeitig
Eine historische Perspektive kann dafür sensibilisieren, dass die Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus, zwischen Fakten und sozialen Anliegen nie so trennscharf verlief, wie gemeinhin angenommen wird. Mehr noch, eine wissenschaftshistorische Perspektive ermöglicht es, die Forderungen nach leidenschaftlicher Forschung und objektiver Distanz als zwei konstitutive Momente des modernen Wissenschaftsverständnisses zu rekonstruieren. Diese gemeinsame Geschichte von Wissenschaft und Aktivismus, von matters of fact und matters of concern, von Wissen und Gegenwissen zu schreiben, ist noch eine Zukunftsaufgabe.
Diese Geschichte wird sich, wenn man sich als progressiv versteht, nicht nur als Erfolgsgeschichte schreiben lassen. Dass sich etwa auch die Neue Rechte schon länger für Gegenwissen interessiert, ist spätestens im Kontext der Covid- und Klimadebatte klar geworden.9 Es geht uns aber auch nicht darum zu behaupten, dass die leidenschaftliche Forschung per se die bessere sei. Sie gehört einfach genauso zur modernen Wissenschaft wie ihr strahlender Gegenpart aus Fakten, Nobelpreisen und Objektivität – und sie brachte oft die ebenso politischen Aspekte der vermeintlich neutralen Forschung ans Licht. Die leidenschaftliche, politisch engagierte Forschung war spätestens mit der Entstehung des modernen Objektivitätsparadigmas im frühen 19. Jahrhundert nicht bloss das überwundene Andere an der Peripherie der «richtigen» Forschung. Die moderne Wissenschaft und ihre Gegenwissenschaften haben den gleichen Ursprung.
Der Text erschien in gekürzter Form erstmals am 5.3.2024 in der Neuen Zürcher Zeitung: https://www.nzz.ch/meinung/debatte-ueber-wissenschaft-und-aktivismus-ist-aelter-als-die-klimakrise-ld.1777131
Referenzen
[1] Vgl. Michelle Perrot (1972): Enquêtes sur la condition ouvrière en France au 19ème siècle. Étude - Bibliographie - Index. Paris; Patrick Eiden-Offe (2015): «Oppositionelle Statistik». Von den unterschiedlichen politischen Gebrauchsweisen statistischen Wissens im Vormärz, in: Gunhild Berg, Borbála Zsuzsanna Török und Marcus Twellmann (Hg.): Berechnen/Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750-1850, Berlin, S. 171–192, https://www.jstor.org/stable/j.ctv1q69s47.11.
[2] Lorraine Daston (1995): «The Moral Economy of Science», in: Osiris 10,1, pp. 2–24, https://doi.org/10.1086/368740; Lorraine Daston and Peter Galison (2007): Objektivität, Frankfurt am Main.
[3] Vgl. u.a. Charlene Haddock Seigfried (1996): Pragmatism and feminism. Reweaving the social fabric, Chicago, p. 74; Inga Pinhard (2009): Jane Addams. Pädagogische Theorie und Praxis der Progressive Era, Leverkusen-Opladen.
[4] Max Stadler, Nils Güttler, Niki Rhyner et al. (2020): Gegen|Wissen, Zürich, auch online verfügbar www.cache.ch/gegenwissen. Ausserdem: Steven Epstein (1996): Impure Science: AIDS, Activism and the Politics of Knowledge, Berkeley; Michelle Murphy (2006): Sick Building Syndrome and the Problem of Uncertainty: Environmental Politics, Technoscience, and Women Workers, Durham; Sigrid Schmalzer, Daniel S. Chard, Alyssa Botelho (Hg.): Science for the People: Documents from America’s Movement of Radical Scientists, Amherst, 2018.
[5] Christopher M. Clark (2023): Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, 1. Auflage, München.
[6] Pascal Germann, Lukas Held, Monika Wulz (2022): «Scientific Political Activism. Zur politischen Geschichte wissenschaftlichen Wissens», in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 30,4, S. 435–444, https://doi.org/10.1007/s00048-022-00345-8. Alexander von Schwerin (2022): «Gegenwissen: Wissensformen an der Schnittstelle von Universität und Gesellschaft», in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 30,4, S. 529–540, https://doi.org/10.1007/s00048-022-00349-4.
[7] Bruno Latour (2004): «Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern», in: Critical Inquiry 30,2, pp. 225–48, https://doi.org/10.1086/421123. Anders als Latour, der mit den matters of concern eine Art neuer Ethik des Dialogs gegen konstruktivistische Formen der Wissenschaftskritik vertritt, geht es uns um eine analytische Perspektive auf das Verhältnis von Wissenschaft und Gegenwissenschaft.
[8] Joshua P. Howe (2014): Behind the Curve: Science and the Politics of Global Warming, Seattle.
[9] Max Stadler, Janosch Steuwer, Monika Wulz (Hg.): Rechtes Wissen. Konstellationen zwischen Universität und Politik (Æther 06), Zürich, 2021, auch online verfügbar: www.aether.ethz.ch/ausgabe6.
Zu den Autorinnen und Autoren
Nils Güttler, Martin Herrnstadt, Niki Rhyner und Monika Wulz sind Wissenschaftshistorikerinnen und Wissenschaftshistoriker in Wien, Bremen und Zürich. Sie forschen und lehren zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, zur Geschichte von «Gegenwissen» und Wissenschaftskritik.
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