Besser altern, besser sterben. Menschliche, technische und spirituelle Ressourcen

Mit der Alterung der Bevölkerung steigt die Zahl der Menschen, die an Multimorbidität und chronischen Krankheiten leiden. Dies stellt das Gesundheits- und Sozialwesen vor grosse Herausforderungen. Dem multiperspektivischen Charakter der Medical Humanities verpflichtet, eröffnete die Veranstaltung vom 26. Oktober 2023 Schlaglichter auf unterschiedliche Ressourcen, die mobilisiert werden (können), um diesem wachsenden Pflegebedarf gerecht zu werden. Debattiert wurde, wie sich kulturelle Diversität innerhalb des Pflegepersonals auf die Beziehung zu den älteren Menschen auswirkt. Welche ethischen und sozialen Konsequenzen die Roboter-gestützte Pflege mit sich bringt. Wie der Glaube als spirituelle Ressource in der Sorge eingesetzt werden kann. Und welches gesellschaftlich und pflegerisch relevantes Wissen Sterbeliteratur birgt.

Als Rückblick auf die Veranstaltung finden Sie auf dieser Seite die Videoaufzeichnungen der vier Inputs und der anschliessenden Podiumsdiskussionen sowie Resümees der Inputs.

Zur Reihe «Alt werden» und «Medical Humanities»

Seit 2009 engagiert sich die SAGW zusammen mit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) im Bereich der Medical Humanities. Die Medical Humanities tragen dem Gedanken Rechnung, dass sich Gesundheit und Krankheit nicht vom Menschen trennen lassen und daher ein rein medizinischer Blick auf das Begriffspaar nicht ausreicht. Die Geistes- und Sozialwissenschaften ermöglichen ein mehrdimensionales Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das auf dem Konzept der Lebensqualität beruht. Wenig fassbare Krankheitsbilder, Mehrfachdiagnosen und Multimorbidität können in diesem Verständnis in die Reflexion miteinbezogen werden.

Von 2017 bis 2020 organisierte die SAGW zusammen mit der SAMW die Reihe «Macht und Medizin». 2021 lancierten die beiden Akademien in Synergie mit der a+ Swiss Platform Ageing Society die auf wiederum vier Jahre angelegte Reihe «Alt werden». Die Reihe stellt das Konzept der «funktionalen Lebensqualität» ins Zentrum einer altersfreundlichen Gesundheitsförderung. Sie beleuchtet kontextuelle und soziale Faktoren, die in Betreuungssettings mitgedacht werden müssen.

«Ein Migrationshintergrund ist nicht entscheidend für die Qualität der Pflege»

Zusammenfassung des Inputs

Wer leistet die Langzeitpflege in der Schweiz und welche Rolle spielt die Herkunft dieser Personen für die Qualität der Pflege? Eva Soom Ammann, Dozentin für Pflege an der Berner Fachhochschule, zeichnete in ihrem Input ein demografisches Profil der Schweizer Pflegelandschaft. Denn das funktioniert nicht ohne ausländische Fachkräfte. Bei deren Anwerbung ist die Schweiz noch immer erfolgreich. Sie profitiert dabei von Personen, in deren Ausbildung sie nie investieren musste. Diese sind oft diplomierte, also tertiär ausgebildete Fachpersonen aus dem südosteuropäischen Raum. Sie besitzen eher akutpflegerischer Erfahrung und selten die passenden Sprachkenntnisse für ihre Arbeit in der Schweiz. Denn der inländische Markt für diese hochqualifizierten Fachkräfte ist stark ausgetrocknet. In die Ausbildung von Fachmännern und Fachfrauen Gesundheit investierte die Schweiz in den letzten Jahren hingegen substantiell. Gleichzeitig wurden zwei von fünf Absolvent·innen dieser Ausbildung zwar in der Schweiz geboren, haben als Kinder von eingewanderten Eltern jedoch einen Migrationshintergrund. Der Arbeitsmarkt für Pflegeassistenzen wiederum ist auf Personen mit fehlender oder unpassender formaler Qualifikation ausgerichtet. «Das Seco nennt die Pflegeassistenz ein Arbeitsfeld mit ‘Beschäftigungschancen’. Hier findet Arbeit, wer anderswo keine Chancen hat», beschreibt Soom Ammann die Situation und merkt an, dass «Arbeitsmarktregulierungen und Nichtanerkennungen von Diplomen aus Drittstaaten als gezielte Praxen zur Sicherung billiger Arbeitskräfte» ausgelegt werden könnten.

So stellt sich die Frage, ob diese gesellschaftliche Pluralität in der Pflege Auswirkungen auf die Pflegequalität hat. Die entsteht in der Langzeitpflege erst durch das «Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren», sagt Soom Ammann. Qualitätsindikatoren können objektiv messbare Kriterien umfassen wie die Prävention von Mangelernährung oder Stürzen. Doch misst sich Qualität auch am subjektiven Eindruck der Gepflegten, beispielsweise am Gefühl, Autonomie und Würde zugestanden zu bekommen. In der Langzeitpflege ist daher der Beziehungsaspekt besonders relevant und da die Pflege über einen langen Zeitraum ausgeübt wird, hat die Beziehung Raum zu wachsen. «Kommunikationswege können erprobt werden und obwohl man sich auf den ersten Blick fremd ist, können Bezugspunkte gefunden werden», sagt Eva Soom Ammann und zeigt sich überzeugt: «Ein Migrationshintergrund ist somit nicht das match-entscheidende Kriterium für qualitativ hochstehende Pflege.»

Über Eva Soom Ammann

Eva Soom Ammann arbeitet als Sozialanthropologin in den Gesundheitswissenschaften. Als Dozentin im Fachbereich Pflege am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule und im Rahmen ihrer Habilitation in Medizinanthropologie an der Universität Bern forscht und lehrt sie interdisziplinär. Ihr Postdoc beschäftigte sich mit dem Thema Lebensende und Diversität im Altersheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diversitäten und Ungleichheiten in der Gesundheit, Migration, Alter und Lebensende sowie insbesondere ethnographische und praxistheoretische Ansätze in der Gesundheitsforschung.

Kontakt: eva.soomammann(at)bfh.ch

«Die Pflege mit Robotern gestalten und gleichzeitig das Menschliche in uns pflegen»

Zusammenfassung des Inputs

Sind die sogenannten «intelligenten» Technologien die Lösung für die verschiedenen aktuellen Herausforderungen im Pflegebereich? Stéphanie Perruchoud forscht an der Universität Lausanne und geht dieser Frage am Beispiel des Einsatzes von Robotern bei der Pflege älterer Menschen nach. In verschiedenen Pflegeheimen in der Schweiz kommen solche Geräte bereits zum Einsatz: Sie sollen vor allem mit von Alzheimer betroffenen Bewohnerinnen und Bewohnern interagieren. 

Diese Praxis wirft sowohl anthropologische als auch ethische Fragen auf: Welchen Platz hat der menschliche Körper und der menschliche Kontakt in der Pflege? Wie kann die Integrität von Personen, denen die Urteilskraft abhandengekommen ist, bewahrt werden? Die Verwendung neuer Technologien kann das Gefühl der Isolation und Abhängigkeit verstärken und sogar das Risiko einer Bevormundung von Bewohnerinnen und Bewohnern erhöhen. Müssen Roboter deshalb komplett aus den Pflegeheimen verbannt werden? 

Forschungen zeigen, dass der Einsatz dieser neuen Technologien auch positive Aspekte hat: Die älteren Menschen können sich gewisse Fähigkeiten erhalten und werden spielerisch gefördert. Die Ethikerin will diese technischen Objekte also nicht verbannen. Ihr Einsatz soll aber in eine klar personenzentrierte Pflege eingebettet sein. Für einen solchen Ansatz braucht es ein besonderes Augenmerk auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner.
Wenn Roboter als Hilfsmittel und nicht als Endziel oder die Lösung schlechthin betrachtet werden, können wir «die Pflege mit Robotern gestalten und gleichzeitig das Menschliche in uns pflegen», so Stéphanie Perruchoud. Dafür braucht es gute Rahmenbedingungen wie etwa regelmässige Protokolle und fortlaufende Beurteilungen. Zudem wäre es wünschenswert, dass das Pflegepersonal im Allgemeinen darüber nachdenkt, wie und zu welchem Zweck solche programmierten Geräte eingesetzt werden können. Dank dieser Begleitmassnamen und Überlegungen «wird die Robotik zu einem Mittel unter vielen, das dann zum Einsatz kommt, wenn dadurch qualitativ hochwertige Pflege ermöglicht wird.»

Über Stéphanie Perruchoud

Stéphanie Perruchoud hat in Philosophie promoviert und das gymnasiale Lehrdiplom erworben. Derzeit teilt sie ihre Arbeitszeit zwischen ihrer Forschungstätigkeit an der Universität Lausanne und ihrem Engagement als Ethikerin im Feld auf. In ihrem Hauptforschungsprojekt analysiert sie die Interaktion zwischen älteren Menschen und Robotern in Pflegeheimen. Ihr Engagement als Ethikerin nimmt sie als Generalrätin der Stadt Sitten, als Mitglied der kantonalen Kommission für Menschen mit Behinderungen und als Präsidentin des Ethikrates für die Walliser Alters- und Pflegeheime (AVALEMS) wahr.

Kontakt: stephanie.perruchoud.1(at)unil.ch

«Trotz der Internalisierung von Religion besteht der Bedarf an religiösen Angeboten»

Zusammenfassung des Inputs

In welcher Beziehung zueinander stehen Religion und Spiritualität einerseits und das Älterwerden andererseits? Pierre-Yves Brandt, Professor für Religionspsychologie, zeigt auf, dass im zunehmenden Alter eine Loslösung von der Religion stattfindet: Während rituelle Verhaltensweisen an Bedeutung einzubüssen scheinen, nehmen bei einem Teil der älteren Menschen religiöse Einstellungen und Gefühle zu. Die Abnahme der religiösen Praktiken kann hauptsächlich durch die verminderte Mobilität erklärt werden, die den Zugang zu rituellen Orten erschwert. Parallel dazu erwähnt der Forscher die Entwicklung «eines regelrechten Internalisierungsprozesses der Religion», der den existenziellen Fragen mehr Bedeutung verleiht. 
Trotz der Tendenz zur Internalisierung gibt es dennoch Situationen, in denen ein erhöhter Bedarf an Religiosität oder an Angeboten der spirituellen Begleitung besteht. Während des «Lockdown Light» fehlte es vor allem an Möglichkeiten, mit einer Vertrauensperson zu sprechen und existenzielle Fragen zu erörtern. Auch bei Krankheit oder in schwierigen Lebenssituationen steigt das Bedürfnis, sich über die Themen Sinn des Lebens, Tod, Spiritualität und Religion auszutauschen. Allerdings ist ein potenzielles Defizit hinsichtlich der spirituellen Begleitung spürbar. In der Tat scheinen trotz der grossen Bedeutung, die die Religion und die Spiritualität zum Ende des Lebens erhalten, nicht genügend Angebote vorhanden zu sein. 

Über Pierre-Yves Brandt

Pierre-Yves Brandt promovierte in Psychologie und Theologie an der Universität Genf. Von 2006 bis 2010 war er Dekan der theologischen und religionswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Lausanne, wo er derzeit als Professor für Religionspsychologie forscht und lehrt. Zudem präsidiert er die Stiftung Jean-Piaget-Archiv. Seine Forschungsschwerpunkte sind Spiritualität und psychische Gesundheit, die Entwicklung der individuellen Identität sowie Gottesvorstellungen bei Kindern. Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit dem Stellenwert spiritueller und religiöser Ressourcen, die Patienten und Patientinnen im Krankenhaussystem eingeräumt wird, sowie mit deren spiritueller Begleitung.

Kontakt: pierre-yves.brandt(at)unil.ch

«Autobiografische Sterbeliteratur bildet ein kulturelles Repertoire an Sterbewissen»

Zusammenfassung des Inputs

Mit der autobiografischen Sterbeliteratur ist in den 2010er Jahren ein neues literarisches Genre entstanden, sagt Corina Caduff, Vizerektorin an der Berner Fachhochschule und Expertin für Gegenwartsliteratur. Beispiele sind Christoph Schlingensiefs «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein» oder Ruth Schweikerts «Tage wie Hunde». Die Werke dieses Genres folgen klar definierten Erzählmustern. Den Beginn der Erzählung bildet stets die Diagnose, welche in der Retrospektive als «Urszene des Sterbens» gewertet wird. Anschliessend dient die Transformation des gesunden in einen sterbenden Menschen der Erzählung als dramaturgische Rahmung. Die erzählenden Personen sind zwischen 40 und 70 Jahre alt und die erzählte Zeit umfasst selten mehr als vier Jahre. «In diesen Büchern wird weder Multimorbidität noch das Sterben in hohem Alter verhandelt. Dennoch erfahren wir etwas über das Sterben, das auch für Expert·innen der Palliative Care interessant sein kann», sagt Corina Caduff. Gerade die wiederkehrenden, sich über alle Erzählungen hinweg gleichenden Motive verweisen auf universelle Dimensionen der Sterbeerfahrung. Zu diesen wiederkehrenden Themenfeldern gehören die Angst vor der Ungewissheit, die Lebensrückschau, der kranke, Energie verschlingende Körper und unterschiedlich ausgestaltete Sorgesettings. «Diese wiederkehrenden Motive machen die Bücher zu einem kulturellen Repertoire an Sterbewissen, das in zweierlei Hinsicht einzigartig sei», sagt Corina Caduff. 

Zum einen erhalten Pflegefachpersonen Patient·innenwissen vermittelt und werden dafür sensibilisiert, diese Perspektiven in der Praxis zu berücksichtigen. Zum anderen wird in Erzählungen von Sorgefigurationen häufig Kritik an der fehlenden persönlichen Gestaltungskraft geübt. Der Erzählmodus – es handelt sich um einen inneren Dialog und kein Arzt-Patient·innen-Gespräch – gewährleistet zudem radikale Ehrlichkeit: «In diesen Büchern findet man viele Sätze, die man nie in einem Sprechzimmer hören wird. Sie reichern den Diskurs über das Sterben mit Äusserungen an, die normalerweise ungesagt bleiben.» Dazu gehört die wiederkehrende Klage über Einsamkeit im Sterbeprozess. «Deutlich tritt der Wunsch hervor sich mit anderen im Sterben begriffenen Personen austauschen zu können», schliesst Corina Caduff ihre Ausführungen und stellt die Frage in den Raum, ob sich solche Austauschgefässe in der Palliative Care institutionalisieren liessen.

Über Corina Caduff

Nach dem Studium und einer Promotion in Germanistik in Zürich habilitierte sich Corina Caduff an der Technischen Universität Berlin. Es folgten Lehrtätigkeiten in Berlin und Chicago, bevor sie als Professorin an die Zürcher Hochschule der Künste berufen wurde. An der ZHdK lehrte und forschte sie mit den Schwerpunkten Gegenwartsliteratur, künstlerische Forschung und Sterben und Tod. Seit 2018 ist sie Vizerektorin für Forschung an der Berner Fachhochschule. Zurzeit leitet sie das interdisziplinäre SNF-Projekt «Sterbesettings».

Kontakt: corina.caduff(at)bfh.ch

Follow-up zur Veranstaltung 2022 «Hin zu einer altersfreundlichen Gesundheitsversorgung»

An der Online-Podiumsdiskussion vom 27. Oktober 2022 äusserten sich sechs Expert·innen dazu, wie eine Grundversorgung, die sich an den Bedürfnissen älterer Menschen orientiert und über die Behandlung von einzelnen Symptomen hinausgeht, aussehen könnte.

Zum Follow-up 2022