Thema der Podiumsdiskussion
Die Alterung der Bevölkerung stellt die Gesundheitsversorgung vor grosse Herausforderungen, denn physische Alterungsprozesse gehen oft mit komplexen Krankheitsbildern und Multimorbidität einher. Das Gesundheitssystem braucht daher eine Grundversorgung, die sich an den Bedürfnissen älterer Menschen orientiert und über die Behandlung von einzelnen Symptomen hinausgeht. Das Konzept der funktionalen Lebensqualität und die Perspektive der Medical Humanities bieten hierfür gute Grundlagen.
An der Online-Podiumsdiskussion vom 27. Oktober 2022, moderiert von Christof Schmitz (college M), äusserten sich sechs Expertinnen und Experten über den Weg hin zu einer altersfreundlichen Gesundheitsversorgung. Sie orientierten sich an Videoinputs, die während des Gesprächs gezeigt wurden. Als Rückblick finden Sie auf dieser Seite:
- Sechs Schlüsselerkenntnisse zu einer altersfreundlichen Gesundheitsversorgung
- Videoinputs und Livestream der Diskussionen
Zur Reihe «Alt werden»
Zur Reihe «Alt werden»
Die Tagung «Hin zu einer altersfreundlichen Gesundheitsversorgung» ist die zweite Veranstaltung in der Medical-Humanities-Reihe «Alt werden». Bis 2024 sind zwei weitere Veranstaltungen geplant. Die Reihe ist eine Kooperation der SAGW mit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften.
Programmkomitee
Nikola Biller-Andorno, Universität Zürich & Mitglied des SAMW-Vorstands; Iren Bischofberger, Universität Wien; Anna Elsner, Universität St. Gallen; Francesco Panese, Universität Lausanne; Martina King, Universität Freiburg; Delphine Roulet Schwab, Haute École de la Santé La Source; Hubert Steinke, Universität Bern; Piet van Spijk, Medicum Wesemlin; Markus Zürcher, Generalsekretär der SAGW; Romaine Farquet, wissenschaftliche Mitarbeiterin der SAGW; Valérie Clerc, Generalsekretärin der SAMW.
… ist personenzentriert
«Die» ältere Bevölkerung gibt es nicht, betonte Romaine Farquet, wissenschaftliche Mitarbeiterin der SAGW, in ihrem Eingangsvotum zum Podiumsgespräch. Diese Erkenntnis, so waren sich die Podiumsgäste einig, muss den Grundsatz einer altersfreundlichen Gesundheitsversorgung bilden. Denn Alter ist nicht einfach ein Zustand, der ab einer bestimmten Schwelle von Jahren unweigerlich einsetzt. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der nicht linear verläuft.
Die Alters- und Gesundheitsplanung müssen deshalb verstärkt die individuelle Situation und Bedürfnisse in den Mittelpunkt rücken. Im Sinne eines relationalen Konzepts geht es dabei um die betroffene Person in ihrem Umfeld, was insbesondere auch die pflegenden Angehörigen einbezieht.
… respektiert den Wunsch nach Autonomie
Ein Grossteil der älteren Menschen möchte zu Hause und nicht in einem Alters- oder Pflegeheim leben. Der Wunsch nach Autonomie ist generell stark ausgeprägt, trotz (oder gerade wegen) vorhandener Einschränkungen. Eine altersfreundliche Gesundheitsversorgung trägt diesem Wunsch Rechnung. Instrumente dafür sind teilweise bereits vorhanden, wie Patientenverfügungen, ambulante Unterstützungsangebote oder technische Hilfsmittel. Diese Instrumente werden jedoch noch zu wenig genutzt, entweder weil sie nicht bekannt sind oder weil anderweitige Hemmschwellen bestehen (zum Beispiel die Scham, einen Rollator in der Öffentlichkeit zu nutzen).
Dazu kommt: Für pflegende Angehörige ist es bisweilen schwierig, die Bedürfnisse der älteren Person einzuschätzen – besonders, wenn kognitive Beeinträchtigungen bestehen –, und diese von eigenen Bedürfnissen zu trennen. Vielleicht ist die Wohnung unordentlich und schmutzig, aber die ältere Person stört sich nicht daran und möchte nicht, dass jemand aufräumt. Hier kommt die pflegende Angehörige in einen Zielkonflikten zwischen ihrem Prinzip der Fürsorge du dem Respekt vor Autonomie, den sie vielleicht nicht allein lösen kann.
… ist partizipativ gestaltet
Nicht nur für, sondern mit älteren Menschen: Eine altersfreundliche Gesundheitsversorgung kann nicht «von aussen» geschaffen werden. Die Gestaltung von Dienstleistungen und Produkten muss sich nach den Bedürfnissen der Seniorinnen und Senioren richten, jenen von heute ebenso wie jenen von morgen. Dazu reicht es nicht, punktuell eine Umfrage zu machen, wenn eigentlich alle Entscheidungen bereits getroffen sind. Gefragt ist vielmehr die aktive Beteiligung älterer Menschen im gesamten Entwicklungsprozess.
Ansonsten besteht das Risiko, dass die Produkte und Dienstleistungen am Ende nicht genutzt werden, wie folgendes Beispiel (genannt von Delphine Roulet Schwab) aufzeigt: Ein Unternehmen entwickelt eine Uhr mit einem Knopf, der einen Notruf auslöst, wenn die Person stürzt. Nach einer Weile stellt sich heraus, dass die meisten Personen die Uhr gar nicht tragen, weil der Alarmknopf zu sensitiv sei und teilweise bereits beim Abstützen des Arms auslöse. Damit konfrontiert bestätigt der Hersteller, dass dies gewollt sei: Schliesslich wolle man nicht riskieren, dass jemand stürze und es keinen Alarm gebe. Solche Szenarien lassen sich durch eine transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen medizinischen, technischen und Designwissenschaften und der Zielgruppe verhindern.
… schafft intermediäre und integrierte Angebote
Der Betreuungsbedarf kann bei derselben Person phasenweise stark schwanken, beispielsweise nach einem Sturz. Deshalb ist es zentral, Institutionen offen zu gestalten und verschiedene Pflegeumfelder (zu Hause, Altersheim, Pflegeheim, Akutspital) als Ganzes zu betrachten. Auf dieser Idee basieren integrierte Angebote wie der Parco san Rocco in Morbio Inferiore (Tessin).
Ebenfalls wichtig sind intermediäre Angebote, die den Übergang zwischen den Pflegeumfeldern erleichtern, wie sie Basel-Lanschaft in Form befristeter Pflegewohnungen kennt. In dieser Hinsicht, so die Podiumsteilnehmer, sei das Finanzierungssystem heute schlecht ausgestaltet: Gemeinden haben keine finanziellen Anreize, integrierte oder intermediäre Angebote zu schaffen.
… unterstützt ältere Menschen ebenso wie ihre Angehörigen
Ein Wandel in Richtung mehr ambulante Betreuung ist bereits im Gange. Dies ist einerseits zu begrüssen, entspricht es doch dem Bedürfnis älterer Menschen und ist gesamthaft günstiger. Andererseits darf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Gesundheitsversorgung nicht ins Private ausgelagert werden. Der Ausbau ambulanter Angebote muss daher mit einer verstärkten Unterstützung der Angehörigen einhergehen: auf finanzieller, administrativer und fachlicher Ebene. Für Situationen, wo es zu Hause nicht geht, braucht es zudem weiterhin Institutionen wie Pflegeheime.
Ein weiterer Hebel, um ältere Menschen ebenso wie ihre Angehörigen zu unterstützen, ist Information und Beratung. Im Dickicht der Angebote und Nutzungsmodalitäten ist es schwierig, den richtigen Weg und das passende Format zu finden. Ein Lösungsvorschlag sind deshalb Fachstellen, die je nach individueller Situation beraten. Grundlage dafür muss jedoch stets auf einer seriösen Abklärung des Gesundheitszustandes der betroffenen Person sein, was eine Beratung ressourcenintensiv macht.
… ist ressourcenorientiert
Altersdiskriminierung ist weiterhin verbreitet. So wird eine Lungenentzündung oder eine Depression bei einem älteren Menschen unbewusst schnell einmal weniger schwer gewichtet als bei einem jungen Menschen. Gerade in den betreuenden und behandelnden Institutionen ist es deshalb zentral, das Personal für die Gleichwertigkeit von Lebensphasen zu sensibilisieren.
Hinter Altersdiskriminierung steht ein defizitorientierts Bild von älteren Menschen als Last und als Bürde. Das Ideal des jungen, kräftigen und im ökonomischen Sinne hochleistungsfähigen Menschen herrscht vor. Es braucht daher ein Neudenken des Alters: Alter als nicht linearer Prozess mit verschiedenen Phasen, in dem viele Menschen ihre grossen Ressourcen für die Gesellschaft einsetzen können und wollen. Es gibt keine rigide Grenze von Lebensjahren, ab der eine Person «alt» und unterstützungsbedürftig ist, auch wenn das fixe Pensionsalter dies suggeriert. Positive und ressourcenorientierte Altersbilder bilden also die Basis für eine altersfreundliche Gesundheitsversorgung. Um diese zu stärken, müssen die Geistes- und Sozialwissenschaften und die medizinischen Wissenschaften zusammenspannen, betonte Valérie Clerc (Generalsekretärin SAMW) in ihrem Schlusswort.
1. Ethische Perspektive: Was beinhaltet der Begriff altersfreundliche Gesundheitsgrundversorgung?
Textbeitrag
Aus ethischer Sicht stellen sich punkto altersfreundlicher Gesundheitsversorgung zwei grundlegende Fragen: 1. Soll es überhaupt eine solche Gesundheitsversorgung geben? 2. Nach welchen Kriterien ist eine Gesundheitsversorgung als altersfreundlich zu bewerten? Um beide Fragen zu beantworten, muss man die vier ethischen Zielkriterien in den Blick nehmen, die für jede Gesundheitsversorgung gelten: Bedarfsorientierung, Personenzentriertheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Bei genauer Betrachtung zeigt sich dann, dass jede gute Gesundheitsversorgung zugleich auch eine altersfreundliche Gesundheitsversorgung sein muss. Wie viel hier im Argen liegt, zeigt sich in der alltäglichen Wirklichkeit im Gesundheitssystem.
2. Perspective historique : comment la prise en charge des aînés en matière de santé a-t-elle évolué en Suisse ?
3. Soins médicaux de base et de longue durée en Suisse : état des lieux et défis
Textbeitrag
Die Alterung der Bevölkerung wird sich in der Schweiz stark beschleunigen. Nach dem mittleren demografischen Szenario wird sich die Zahl der über 80-Jährigen bis 2040 fast verdoppeln. Bei einer unveränderten Betreuung der Senior·innen wird der Bedarf an Einrichtungen für die Langzeitpflege dann etwa eineinhalb Mal so hoch sein wie heute. Um zu verhindern, dass immer mehr Pflegeheime gebaut werden müssen, werden Alternativen diskutiert, wie die Menschen mit dem geringsten Pflegebedarf anderswo betreut werden können. Ein solches Szenario der Betreuung ausserhalb von Pflegeheimen hat zwar Potenzial, ist aber auch mit grossen Herausforderungen verbunden, da die alternativen Strukturen (häusliche Pflege, betreutes Wohnen etc.) erheblich ausgebaut werden müssten, was insbesondere angesichts des Mangels an Pflegepersonal ein schwieriges Unterfangen ist.
4. INTERCARE und INSPIRE: innovative Grundversorgungsmodelle für SeniorInnen
Textbeitrag
In Übereinstimmung mit der Strategie des Bundesrats «Gesundheit 2020» hat das Amt für Gesundheit in Basel-Landschaft im Jahre 2018 das Altersbetreuungs- und Pflegegesetz (SGS 941) eingeführt, das die Gemeinden verpflichtet, acht Versorgungsregionen zu bilden und die Pflege und Betreuung älterer Personen, die zu Hause leben, durch die Einrichtung einer Informations- und Beratungsstelle in jeder Versorgungsregion neu zu organisieren.
Ein interprofessionelles Team der Universität Basel bestehend aus Pflegefachwissenschaftlerinnen, Hausärzten, Geriatern, Pharmazeuten und Epidemiologen hat zwei Forschungsprojekte zu diesem Thema durchgeführt, die Projekte «INSPIRE» und «INTERCARE».
5. Wie kann Design zu einer altersfreundlicheren Gesundheitsgrundversorgung beitragen?
Textbeitrag
In den letzten Jahren hat das Interesse an gestalterischen Aspekten im Gesundheitskontext zugenommen. Dies zeigt sich unter anderem in einem zunehmenden Bewusstsein der Gesundheitsinstitutionen für die Relevanz von Design und Architektur. In der Pandemie wurde dies besonders sichtbar – gerade in Bezug auf ältere Menschen. Bei der Gestaltung von Kommunikationsmitteln, Produkten, räumlichen Umgebungen und Angeboten für die Gesundheitsversorgung älterer Menschen ist Folgendes wichtig: die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse (evidenzbasiertes Design) und der frühzeitige Einbezug relevanter Ansprechgruppen in den Designprozess. Dabei gilt es zu beachten, dass die primäre Ansprechgruppe, nämlich ältere Menschen, nicht weniger heterogen ist als die übrige Bevölkerung.
Follow-up zur Podiumsdiskussion 2021 «Die Gesundheitsversorgung, die Gesellschaft und die ‹Alten›»
Die erste Veranstaltung in der Medical-Humanities-Reihe «Alt werden» fand im Herbst 2021 statt und diskutierte Vorstellungen des Alters und ihre Realitätseffekte anhand sechs konkreten Inputs von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis.