Fachvertretungen und Dekaninnen und Dekane blicken mit Unbehagen auf die Entwicklung der Studierendenzahlen in den Fächern der Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese Sorge hat jüngst Initiativen im SAGW-Umfeld angestossen. Darunter die Kampagne geschichtestudieren.ch der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG). Die Kampagnenwebsite ist seit dem 28. August live. SGG-Generalsekretär Flavio Eichmann hat einiges vor: «Wir wollen mit der Kampagne Maturandinnen und Maturanden von den Vorzügen eines Studiums der Geschichte überzeugen, indem wir zeigen, was man im Geschichtsstudium alles lernen kann, welche vielfältigen Karrieremöglichkeiten es ermöglicht und dass herrschende Vorurteile über das Studium falsch sind.» Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitet die SGG mit dem Verband der Geschichtslehrpersonen zusammen.
Initiative der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte
Ende August lancierte die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte die Kampagne «Geschichte studieren. Deine eigene Geschichte schreiben». Das Ziel der Kampagne ist es, Maturand·innen von der Attraktivität eines Geschichtsstudiums zu überzeugen.
Sind die Geistes- und Sozialwissenschaften auf Tauchstation? Entwicklung der Studierendenzahlen
Die Geistes- und Sozialwissenschaften seien «auf Tauchstation» und «im Niedergang» begriffen, schrieb das Online-Magazin Watson in dramatischem Tonfall. Wie sehen die Zahlen nüchtern betrachtet aus? Von 2021/22 bis 2022/23 ging die Gesamtzahl der Studierenden an Schweizer Hochschulen erstmals seit fast drei Jahrzehnten leicht zurück (Rückgang von 0,6 Prozent). Dieser Rückgang lässt sich primär durch die demografische Entwicklung begründen. Anfang der Nullerjahre sank die Geburtenrate in der Schweiz auf ein Zwischentief. Genau diese Jahrgänge sind nun in einem Alter, in dem sich diejenigen, welche die allgemeine Studierfähigkeit erworben haben, an einer Hochschule immatrikulieren können. Der Rückgang der Studierendenzahlen verteilt sich indes nicht gleichmässig über alle Fachbereiche. Während die Studierendenzahlen in der Medizin und Pharmazie, den Technischen Wissenschaften sowie den Exakten und Naturwissenschaften gleichblieben oder leicht zulegten, gingen sie in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in den Wirtschaftswissenschaften um je rund zwei Prozente, im Recht um rund ein Prozent zurück. In absoluten Zahlen umfassen die Geistes- und Sozialwissenschaften noch immer – und mit Abstand – die meisten Studierenden (Tab. 1).
Wie sehen die Zahlen über einen längeren Zeitraum aus? Die Zahlen des Bundesamts für Statistik erlauben einen Vergleich zwischen den Fachbereichen seit 1990/91. Es zeigt sich, dass die Studierendenzahl in den Geistes- und Sozialwissenschaften von Mitte der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre im Vergleich zum Gesamtwachstum der Studierendenzahlen deutlich überproportional zunahm (Grafik 1). 1995/96 zählten die Geistes- und Sozialwissenschaften rund 29 000 Studierende, zehn Jahre später bereits 42 000 (Grafik 2), was damals mehr als 37 Prozent aller Studierenden an einer universitären Hochschule ausmachte (Grafik 3). Anschliessend verlangsamte sich das Wachstum, bis es zuletzt negativ ausfiel. Im Jahr 2022/23 liegt der Anteil der Studierenden in den Geistes- und Sozialwissenschaften bei knapp 28 Prozent. Auffällig ist, dass auch die Studierendenzahlen in den Fachbereichen «Wirtschaftswissenschaften» und «Recht», die beide je nach Sichtweise ebenfalls den Geistes- und Sozialwissenschaften zugerechnet werden können, seit rund zehn Jahren stagnieren und zuletzt rückläufig waren.
Tendenziell verlieren die traditionellen bildungskanonischen Fächer
Die Entwicklung der Studierendenzahlen in den einzelnen Fachrichtungen im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften verläuft sehr unterschiedlich. Es gibt Studienfächer, die in den letzten Jahren teilweise deutlich zulegen konnten, allen voran die boomende Psychologie, aber auch Linguistik, Humangeographie, Theologie oder Philosophie (Tab. 2). In anderen Fächern wie Germanistik, Politikwissenschaft, Ethnologie und Volkskunde zeigt die Kurve hingegen nach unten. Tendenziell sind es die alten, bildungskanonischen Fächer, die an Boden verlieren.
Die in absoluten Zahlen grösste Verliererin ist das Fach Geschichte, dessen Studierendenzahl seit 2013/14 um mehr als 20 Prozent zurückgegangen ist. Flavio Eichmann sieht dafür auch interne Gründe. Viele traditionelle Fächer wie die Geschichte hätten sich durch die Schaffung spezialisierter Studiengänge selbst geschwächt, da die Statistik diese Studierenden nun anderen Fächern zuordne.
Die Fachvertretungen sind gefordert
Die Ursachen für diese Entwicklungen zu benennen, ist schwierig. Das bestätigen auch die Studienberatungsstellen der Universitäten Basel, Bern und Zürich sowie des Kantons Zürich, welche die SAGW um eine Einschätzung gebeten hat. Aus der Beratungspraxis sei (in der Regel) nicht bekannt, ob oder warum gewisse Fächer der Geistes- und Sozialwissenschaften Gegenstand von Beratungsgesprächen seien.
Um die unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Fachrichtungen an den Universitäten zu erklären, müssen auch die Zahlen zu den Studiengängen der Fachhochschulen beigezogen werden. Mehrere Fachbereiche wie Angewandte Linguistik, Angewandte Psychologie, Soziale Arbeit, Design oder Musik, Theater und andere Künste, die nahe an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern an den Universitäten liegen, sind in den letzten zwei Jahrzehnten stärker gewachsen als ihre verwandten Disziplinen an den Universitäten und zählen heute rund 22 000 Studierende (2000/01: 5 300, 2010/11: 17 300). Mit den Angeboten der Fachhochschulen haben junge Menschen mehr Optionen in ihrer Studienwahl. Es scheint zum Beispiel naheliegend, dass zumindest ein Teil der Maturi und Maturae, die sich vor zehn oder zwanzig Jahren noch für ein Studium der Kunstgeschichte an einer Universität entschieden hätten, heute Design an einer Fachhochschule studieren.
Wer die Studierendenzahlen interpretiert, greift als Erklärung mitunter schnell auf den Terminus «gesellschaftlicher Wandel» zurück. Warum Romanistik studieren, wenn die westliche Welt weitgehend auf Englisch kommuniziert? Flavio Eichmann sieht auch ganz handfeste Gründe für die Studierendenzahlentwicklung und nimmt die Fachvertretungen in die Pflicht: «Ich wünschte mir, die Geistes- und Sozialwissenschaften würden mehr auf Stufe Gymnasium investieren und sich selbstbewusster verkaufen.» Zu lange hätten die Interessensvertretungen der Geistes- und Sozialwissenschaften dabei zugesehen, wie andere Disziplinen intensiv um Maturandinnen und Maturanden warben, Besuchstage an der ETH organisierten oder Labels wie «MINT-freundliches Gymnasium» verteilten, ohne selbst tätig zu werden.
1 In den Fachrichtungen mit dem Zusatz «übergreifend/übrige» aggregiert das Bundesamt für Statistik die Studierendenzahlen aus Studiengängen, die «nicht eindeutig einer Fachrichtung zugeordnet werden können». Die Kategorie fasst in erster Linie die interdisziplinären Studiengänge zusammen. Welche Studiengänge dazugezählt werden, wird von jeder Universität einzeln erhoben und ist entsprechend aufwändig zu ermitteln.
Quellen
Bundesamt für Statistik: Studierende an den universitären Hochschulen: Basistabellen, 1990–2022. Tab. 3.1: Studierende nach Fachbereichsgruppe, Geschlecht und Staatsangehörigkeit (Kategorie), Entwicklung seit 1990/91, Tab. 7: Studierende nach Fachrichtung und Geschlecht, Entwicklung seit 2013/14.
Bundesamt für Statistik: Studierende an den Fachhochschulen (inkl. PH): Basistabellen, 1997–2022. Tab. 3.1 Studierende nach Fachbereich, Geschlecht und Staatsangehörigkeit (Kategorie), Entwicklung seit 1997/98.