Seit 1974 treffen sich die globalen Wirtschaftsführer und Spitzenpolitikerinnen jeden Januar zum Tête-à-Tête am World Economic Forum (WEF) in Davos. Auch dieses Jahr hätte der Bündner Skiort ab dem 25. Januar für fünf Tage zum hochgesicherten Machtzentrum werden sollen. Bis es anders kam und sich das WEF 2021 virusbedingt nach Singapur verabschiedete.
Der Ortswechsel soll nur vorübergehend sein. Zu nicht weniger als einer kompletten und dauerhaften Neuausrichtung des globalen Wirtschaftssystems rief jedoch im Juni 2020 WEF-Chef Klaus Schwab auf: Er kündigte die Initiative «The Great Reset» an, die dazu beitragen sollte, die Post-Covid-Welt zu einem besseren Ort zu machen. Covid-19 habe gezeigt, schrieb Schwab damals, dass es möglich ist, «unsere ökonomischen und sozialen Grundlagen neu zu starten».
The changes we have already seen in response to COVID-19 prove that a reset of our economic and social foundations is possible.
Die Worte des einflussreichen Wirtschaftsprofessors wurden seither vielfältig rezipiert, verdaut und repetiert, durch Wirtschaftsführerinnen, Medien und Verschwörungstheoretiker. Dabei ist Klaus Schwab längst nicht der Erste, der eine Abkehr von neoliberalen Wirtschaftsprinzipen fordert – denn dafür gibt es gute Gründe! – oder den Chancencharakter von Krisen bemüht.
Der Shareholder-Value und die Ironie der Geschichte
Nur eine Krise führt zu echten Veränderungen. Das Bonmot wurde schon dem Ökonomen Milton Friedman zugeschrieben, wobei in seinem Fall eine ganze Menge historische Ironie mitschwingt: Seine global erfolgreich durchgesetzte Shareholder-Value-Doktrin führte 2008 in eine Banken- und Finanzkrise, die seither mit einer Geldschwemme übertüncht wird und deren negativen bis gefährlichen Effekte sich zunehmend manifestieren.
Mehr als drei Jahrzehnte lang wurde eingetrichtert, dass die einzige Funktion und das einzige Ziel eines Unternehmens sei, Gewinne zuhanden der Shareholder zu generieren. Dafür war eine Deregulierung auf breiter Front notwendig, welche die Unternehmen von den Verpflichtungen gegenüber ihren Stakeholdern, im weitesten Sinne ihrer Umwelt, entband und die Märkte global entfesselte: Die Folge davon war und ist die rücksichtslose Ausbeutung des Humankapitals und der natürlichen Ressourcen, die Erosion der Wirtschaftsordnung und deren Institutionen sowie eine Dominanz der Ökonomie über die Politik.
Monetaristische Doktrin führt weder zu Wohlstand noch zu Fortschritt
Bis heute bedient man sich günstig an den natürlichen Ressourcen und an den Arbeitskräften im globalen Süden. Steuern, die ebenso tief gehalten werden wie Schutzmassnahmen für Mensch und Umwelt, niedrige Löhne und Treibstoffpreise erlauben es, dort zu produzieren, wo es am billigsten ist. Nicht über Fortschritt und Innovationen werden Gewinne erzielt, sondern durch die Ausnutzung fehlender oder schwacher Institutionen, die nicht in der Lage sind, ein Teil des erschaffenen Mehrwerts sinnvoll zu investieren: In die Bildung, die Gesundheit und Infrastrukturen. Kurz, der Shareholder-Ansatz schafft weder breiten Wohlstand noch Fortschritt – und dies nicht nur im globalen Süden: Die monetaristische Doktrin führte weder zu einem Wettbewerbsmarkt noch zu einem Marktkapitalismus, sondern zu Monopolmärkten und einem Finanzkapitalismus.
Nicht Wohlstand für breite Bevölkerungskreise ist das Resultat, sondern eine Schere zwischen arm und reich, die Jahr für Jahr weiter aufgeht. Dies gilt auch für die Schweiz, insbesondere weil die Erwerbseinkommen stagnieren und die Vermögenseinkommen steigen.
Ein monetaristischer Ablasshandel
Mannigfach wechselseitig verknüpft gefährdet die Erosion der institutionellen Ordnung Mensch und Natur. Besonders manifestiert sich die Gefahr für Mensch und Natur in der Erderwärmung. Paradoxerweise bekämpfen seit den 1990er-Jahre bis heute die Klimaforscher die Erderwärmung mit monetaristischen Instrumenten. Seit bald zwei Dekaden werden «Verschmutzungszertifikate» ausgestellt, gekauft, verkauft und auf Börsen gehandelt. Bekanntlich hat dieses Treiben bislang kaum Effekte erzielt. National und international hat sich ein Ablasshandel etabliert, ein weiterer, von der monetaristischen Kirche angebotener Gottesdienst. Erderwärmung, Zerstörung von Ökosystemen, Raubbau an natürlichen Ressourcen, stetig zunehmende Ungleichheit in allen Bereichen und jetzt noch eingebrochene Lieferketten und leere Lager: Die Krise ist da und damit der Moment, ein in jeder Hinsicht verfehltes Dogma über Bord zu werfen.
Ein Genfer Debattierclub ebnet den neoliberalen Weg
Vor rund 50 Jahren veröffentlichte Milton Friedman einen Artikel in der New York Times mit dem Titel «Die soziale Verantwortung von Unternehmen» («The Social Responsability of Business»), die einzig und allein darin bestehe, die Profite zu steigern. («There is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits.») Mit dem Text leitete Friedman die Erosion der an Maynrad Keynes und dem Korporatismus orientierten sozialpartnerschaftlichen Marktwirtschaft ein.
Friedmans Doktrin der Shareholder-Value fiel aber nicht vom Himmel. Ihr voran gingen zwei Jahrzehnte intensiver Diskussionen, die in der «Mont-Pèlerin-Gesellschaft» in Genf, einem von Friedrich August von Hayek (1899–1992) 1947 ins Leben gerufenen neoliberalen Debattierclub oder Think Tank, geführt wurden. Ab den 1950er-Jahren kam es zu Auseinandersetzungen zwischen dem deutschen Flügel um Alexander von Rüstow (1885–1963) und Wilhelm Röpke (1899–1966), die eine ordoliberale Wirtschaftsordnung vertraten, und dem amerikanisch geprägten Flügel um Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises (1881–1973), die eine reine, adjektivlose Marktwirtschaft vertraten.
Nach einer Phase des Ordo-Liberalismus, der in Deutschland, in der Schweiz und in weiteren europäischen Ländern bis in die 1970er-Jahre hinein dominierte, setzten sich schliesslich die von von Hayeks und van Mises vertretenen Ideen durch. Sie ebneten den Weg für Milton Friedman, der vollstreckte, was die vorangehende Generation vorbereitet hatte.
Es ist Zeit für Regeneration vom monetären Wachstum
Eine Rückbesinnung auf den Ordoliberalismus wäre selbstverständlich nicht hinreichend für die Überwindung der gegenwärtigen manifesten Krise, obschon sich an seine Überlegungen zur institutionellen Ordnung und der Bedeutung der Politik anknüpfen liesse. Doch ist die Herausforderung heute anders gelagert: Nicht der Wiederaufbau der Wirtschaft steht auf der Agenda, sondern die Regeneration und der Schutz von Natur und Mensch, nicht materielles oder monetäres Wachstum, sondern Lebensqualität und Widerstandskraft. Ob das vom WEF als Fluchtort gewählte Singapur für einen so gelagerten Great Reset geeignet ist, ist fraglich: Eine künstlich erweiterte und faktisch autokratisch regierte Insel, die mitunter auf die Sterilisierung des Lebens zu setzen scheint, ist als Utopie ebenso wenig attraktiv wie jene von Thomas Morus.
Literatur
- Brühlhart, Marius (2020): Wer hat, dem wird vererbt, in: SAGW-Bulletin 26,1, S. 22–24. http://doi.org/10.5281/zenodo.3716148
- Chesney, Marc (2019): Ökonomie und Finanzen: das Monopol des vorherrschenden Denkens und seine Gefahren, in: SAGW-Bulletin 25,3, S. 8–12. http://doi.org/10.5281/zenodo.3530306
- Deaton, Angus: Wir erleben einen neuen Klassenkampf, in: NZZ am Sonntag vom 22. November 2020.
- Hummels, Harry und Tom van der Lubbe: Aktionärskapitalismus (1970–2020), in: Das Magazin vom 21. November 2020, S. 8–9.
- Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert, München.
- Slobodian, Quinn (2019): Globalisten – Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Frankfurt.
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