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Wie viel Wildnis braucht der Mensch – und wie viel Wildnis-Erleben?

Eike von Lindern, Umweltpsychologe
Nachhaltigkeit

Die Auswirkung von Wildnis-Erleben auf Erholung und Selbstwirksamkeit ist individuell. Aus umweltpsychologischer Sicht ist aber klar: Wir brauchen eher mehr als weniger Wildnis.

Wildnis ist nicht gleich Wildnis. Sowohl die Natur- als auch die Gesellschaftswissenschaften haben eigene Sichtweisen auf die Wildnis entwickelt. Gründe dafür sind unter anderem ein konzeptioneller Widerspruch zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Auffassung von Wildnis: So definiert das naturwissenschaftliche Verständnis Wildnis als ein Gebiet ohne menschliche Einflüsse, in der die Natur sich selbst überlassen wird (Wild Europe Initiative, 2013). Im geisteswissenschaftlichen Verständnis hingegen muss ein Mindestmass aktiven Erlebens der Wildnis möglich sein (z. B. Haß et al., 2012).

Dies ist nicht nur ein konzeptionelles, sondern ein praktisches Problem, wie das Beispiel von Grossschutzgebieten zeigt. Sie sollen Natur- und Prozessschutz sowie Wildnis fördern, gleichzeitig Erholung und Natur-Erleben bieten sowie als Orte für Umweltbildung dienen (z. B. Ensinger & von Lindern, 2018; Wild Europe Initiative, 2013).

Geht es um Umweltbildung, Erholung und Natur-Erleben, dann braucht der Mensch zugängliche und erlebbare Wildnis. Geht es um Prozess- und Naturschutz, dann braucht der Mensch Wildnis ohne menschliche Einflüsse.

Wozu Wildnis?

Wir Menschen sind für unser eigenes Wohlergehen auf eine ökologisch intakte Umwelt angewiesen (Plumptre et al., 2021). Leider ist diese nicht mehr so ökologisch intakt, wie es uns guttäte: Eine zunehmende Anzahl von Arten gilt als gefährdet, viele Korallenriffe sind bereits verloren oder stark beschädigt, weit mehr als 100 Millionen Hektar Regenwald wurden bis heute zerstört und die Geschwindigkeit des Verlusts an Arten, Biodiversität und Wildnis nimmt beständig zu. Rund eine Million Pflanzen- und Tierarten sind in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht. Extremwetterereignisse werden häufiger und dass es durch uns Menschen auf der Erde wärmer wird, kann nicht mehr ernsthaft angezweifelt werden. Das Ganze könnte uns relativ egal sein, wären nicht unsere Existenz und Wohlergehen gefährdet: Der Verlust von Lebensräumen, Biodiversität und Wildnis bedeutet eingeschränkte Ökosystemleistungen und betrifft damit unsere Lebensgrundlage (Marselle et al., 2019). Der Verlust von Wildnis bedeutet auch, dass Menschen und Wildtiere immer enger zusammenleben. Das erhöht das Risiko für Pandemien durch Zoonosen, also von Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen, wie die Pest, Ebola oder Covid-19. Wildnisgebiete zu erhalten und zu fördern schützt also unsere Gesundheit, da das Risiko einer Pandemie verringert wird. Daher braucht der Mensch so viel unberührte Wildnis wie möglich.

Wozu Wildnis-Erleben?

Aber auch Wildnis aktiv erleben zu können erfüllt mehrere Zwecke: Zum einen kann Wildnis-Erleben für Umweltbildung genutzt werden. Systemische Zusammenhänge zwischen natürlichen Prozessen und deren Bedeutung für Ökosysteme werden direkt erlebbar. Das kann zu einer nachhaltigeren Sichtweise, zu mehr Wertschätzung für Natur sowie zu mehr Akzeptanz und Engagement für Natur- und Ressourcenschutz führen, wie es in den 17 Zielen für Nachhaltige Entwicklung der Uno vorgesehen ist.

Attention Restoration Theorie

Zum anderen bieten Natur- und Wildnis-Erleben Möglichkeiten, sich von Stress und Beanspruchungen des Alltags zu erholen. Die «Attention Restoration Theorie» (Kaplan & Kaplan, 1989) geht davon aus, dass unsere kognitiven Ressourcen für gerichtete Aufmerksamkeit durch Konzentrationsaufgaben und Ausblenden von Ablenkungen erschöpfen. Mentale Ermüdung und Erschöpfung folgen. Erleben von Faszination, Kohärenz, Kompatibilität und psychologischer Distanz initiiert Erholungsprozesse, die uns helfen, Gesundheit und Wohlbefinden aufrechtzuerhalten und Stress abzubauen, um wieder fit für den Alltag zu sein (Abbildung 3). Kohärenz meint dabei den Grad der Einheitlichkeit einer Landschaft und wie intuitiv diese zu «verstehen» ist. Kompatibilität betrifft Merkmale in der Umwelt, die uns darin unterstützen, zu tun, was wir dort tun wollen oder müssen. Faszination zieht Aufmerksamkeit ohne Anstrengung auf sich und bringt uns zum Staunen. Psychologische Distanz entführt uns in eine andere Welt fern ab vom Alltag und Alltäglichem (Abbildung 4).

Dadurch, dass wir uns in der Natur und Wildnis psychologisch weit weg vom Alltag fühlen, faszinierende Dinge wahrnehmen, die uns staunen lassen, wir in der Regel körperlich aktiv sind und einen starken Kontrast zum Alltäglichen erleben, erholt sich unsere Psyche. Mentale Gesundheit und Wohlbefinden werden gefördert (z.B. von Lindern, Lymeus, & Hartig, 2022).

Wildnis-Erleben kann die Selbstwirksamkeit stärken

Im Gegensatz zum Natur-Erleben sind mit Wildnis-Erleben mehr (körperliche) Herausforderungen verbunden: Wildnis ist unwegsam, Bäche oder Flüsse müssen überquert werden, Schutzhütten und Versorgungsinfrastruktur fehlen. Bei Problemen oder Gefahren sind wir auf uns gestellt.

Sofern wir diese Herausforderungen meistern, stärkt das unsere Selbstwirksamkeit. Das ist die Gewissheit, dass wir schwierige Situationen durch unsere eigenen Fähigkeiten erfolgreich bewältigen können. In der Psychologie gilt Selbstwirksamkeit als Schlüsselfaktor für einen erfolgreichen Umgang mit Problemen und Stress und trägt bedeutend zu Wohlbefinden und Gesundheit bei.

Wie viel Wildnis braucht welcher Mensch?

Aus naturwissenschaftlicher Sicht können wir den Menschen als Spezies betrachten. Für das Überleben und Wohlergehen der eigenen Spezies braucht der Mensch, wie geschildert, so viel unberührte Wildnis wie möglich. Aus umweltpsychologischer Sicht ist das komplexer. Es hängt vom Individuum ab, welche und wie viel Wildnis gebraucht wird.

Die Befundlage zum Wildnis-Erleben ist allerding noch sehr dünn, die meisten Studien beziehen sich auf das Erleben von naturnahen im Vergleich zu urban geprägten Umwelten. Neuere Studien zeigen, dass ein Erleben von «Wildnishaftigkeit», also der wahrgenommenen Wildnis, mit Wohlbefinden und Erholung positiv zusammenhängt. Allerdings fühlen sich manche Menschen in der Wildnis überfordert, wenn unvorhergesehene oder unbekannte Herausforderungen auftreten. Das kann zu mehr Stress als Erholung und zu einer Verringerung der Selbstwirksamkeit führen, was aus psychologischer Sicht nicht wünschenswert ist. 

Ab wann und wieso Natur als Wildnis wahrgenommen wird und wie sich mehr oder weniger Wildnishaftigkeit auf Gesundheit, Wohlbefinden und Selbstwirksamkeit auswirken, sind zwei von vielen offenen Fragen in der umweltpsychologischen Forschung zu erholungsförderlichen Umwelten. In jedem Fall können wir sagen, dass wir Menschen eher mehr als weniger Wildnis für das Wohlergehen unserer Spezies, aber auch zur Förderung von Selbstwirksamkeit, Erholung und Gesundheit sowie zur Umweltbildung im Sinne der Bildung für Nachhaltige Entwicklung dringend brauchen. Aus umweltpsychologischer Sicht sind allerdings noch zu viele Fragen offen, um eindeutig sagen zu können, für wen genau wie viel und welches Wildnis-Erleben gut ist oder zu mehr Stress führt. Es gibt noch viel zu forschen!

Zum Autor

Eike von Lindern ist promovierter Umweltpsychologe und Co-Geschäftsführer von «Dialog N – Forschung und Kommunikation für Mensch, Umwelt und Natur» (www.dialog-n.ch). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Gesundheitsförderung, Natur- und Wildnis-Erleben und Nachhaltigkeitsforschung. 2019 durchquerte er alleine 400 Kilometer Wildnis als Selbstversuch.

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Dies ist eine Open-Access-Publikation, lizenziert unter CreativeCommons CC BY-SA 4.0.

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