Nimmt man die Modelle der Klimawissenschaften ernst, ist die Dringlichkeit eines schnellen, umfassenden und entschlossenen Handelns offensichtlich. Um die schlimmsten Auswirkungen der Klima- und Biodiversitätskrisen zu verhindern, können unterschiedliche Strategien verfolgt werden: Entkopplung von Konsum und klimaschädlichen Emissionen durch technologische Innovationen; Anpassung und Stärkung der Resilienz von Natur- und Kulturräumen; Regulierung durch «sozialtechnologische» Massnahmen; oder Lenkung durch staatliche Investitionen und durch die Industrie- und Sozialpolitik.
Da insbesondere die Technologien zur Entkopplung von Emissionen und Konsum nicht rechtzeitig in der notwendigen Skalierbarkeit zur Verfügung stehen, wird ein wesentlicher Teil der Strategien darauf beruhen, deutliche Änderungen des Verhaltens hin zu Nachhaltigkeit durch entsprechende Anreize herbeizuführen. Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage, welchen Einfluss diese Verhaltensänderungen auf die Lebensqualität der Menschen haben. Oftmals wird davon ausgegangen, dass es einen Zielkonflikt zwischen (kurzfristiger) Lebensqualität und nachhaltiger Lebensweise gebe; immerhin sind ressourcenintensiver Konsum und Bequemlichkeit zentrale Werte unserer Vorstellung vom Guten Leben.i
In meiner Forschung beschäftige ich mich mit der Frage, inwieweit wir in den verschiedenen Forschungsrichtungen zur Lebenszufriedenheit und dem Guten Leben Hinweise darauf finden, ob die Annahme eines solchen Zielkonflikts gerechtfertigt ist oder nicht. Wichtig dabei erscheint mir, methodisch nicht nur «auf ein Pferd» zu setzen (wie die Lebenszufriedenheitsforschung oder die Positive Psychologie), sondern ein möglichst breites Spektrum von Forschungsrichtungen, die von der Evolutionspsychologie über die Narrationspsychologie bis hin zur Neurowissenschaft reichen, zusammenzubringen und mit Vorstellungen in der Philosophie, Literatur und Kunst abzugleichen. Wenn wir die Krisen nutzen, um unsere Vorstellungen eines Guten Lebens zu hinterfragen und zu verändern, muss ein nachhaltiges Leben keine Abstriche an Lebensqualität mit sich bringen, zeigen diese Forschungen. Denn viele der Verhaltensweisen, die uns in die Krisen führen, sind dem Guten Leben eher abträglich.
Dass materieller Konsum nicht glücklich macht, hat evolutionäre Wurzeln
Medizinische Studien zeigen eine Zunahme psychischer und stressbedingter Erkrankungen in wohlhabenden Gesellschaften. Und sowohl die Lebenszufriedenheitsforschung als auch die Positive Psychologie zeigen, dass ein steigendes Einkommen nur begrenzt mit mehr Lebenszufriedenheit verbunden ist. Zwei dafür verantwortliche Faktoren sind:
Erstens: Unsere Verhaltensdispositionen sind ein Ergebnis evolutionärer Selektion. Ob sie angemessen sind, hängt von der Umwelt ab, in der man sich befindet. Viele unserer Verhaltensdispositionen sind in Umwelten entstanden, die sich von den heutigen systematisch unterscheiden. Dies wird als Mismatch bezeichnet.ii Die Mismatch-Theorie erlaubt zu erklären, warum wir nicht ohne weiteres davon ausgehen können, dass unser Verhalten dem Ziel eines Guten Lebens dienlich sein muss. Hier ist ein Beispiel: das Dopamin-«Belohnungssystem» ist in einem Umfeld relativer Knappheit entstanden. In einer Situation des Überflusses kann es zu Verhaltensweisen führen, die negative gesundheitliche (Fast Food) oder mentale Folgen (Medienkonsum) haben können. Umgekehrt lässt sich mit diesem Konzept eine moderne Fundierung der in westlichen und östlichen Tugendethiken verbreiteten Vorstellung finden, man müsse Gewohnheiten auf eine bestimmte Art kultivieren, um ein gutes, eudaimones Leben führen zu können.
Zweitens: Ein weiteres evolutionäres Argument kann den Zusammenhang zu kulturellen Normen verdeutlichen: Gruppenstatus ist ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Verhalten. Allerdings hängt es von kulturellen Normen ab, welche Verhaltensweisen statuserhöhend sind. Dass in einer materialistischen Kultur Status oftmals an materielle Güter gebunden ist, verweist auf ein zentrales Problem der Krisen. Es existiert ein Rennen um relative Positionierung. Wenn aber Alle einfach nur schneller laufen, verändert sich die relative Position jedes Einzelnen nicht. Ist Status an fossilen Energieverbrauch gekoppelt, nutzen wir einfach mehr davon, ohne dass dies etwas bringt.
Vorstellungen von Sinn und Zugehörigkeit neu erlernen …
In der Forschung zu den Bedingungen des Guten Lebens findet man die Aussage, dass mit materiellem Wohlstand schnell Faktoren wie Zugehörigkeit, Freundschaft, Anerkennung und Sinn zentral werden. Die Dimension Sinn ist hinsichtlich der Krisen besonders interessant.
Empirische Forschung zeigt, dass Sinn mit Erfahrungen der Entgrenzung zu tun hat. Dies kann bedeuten, gemeinsam mit anderen Menschen etwas zu tun oder eine Verbindung zwischen der eigenen Existenz und etwas Grösserem zu erleben, zum Beispiel Gott oder für viele säkulare Menschen Natur. Die Erfahrung des Erhabenen und das Gefühl der Ehrfurcht sind hierbei zentral. Studien zeigen, dass solche Erfahrungen eine gemeinsame Grundstruktur aufweisen. Es wird von Einheitserfahrungen berichtet, die sich auf andere Menschen, andere Lebewesen oder die Erde beziehen können. Damit einher geht ein moralisches Gefühl der Verantwortung für dieses «Grosse Ganze». Gleichzeitig wird von positiven Gefühlen wie Glück, Verbundenheit und Liebe berichtet. Die Wichtigkeit von «Natur»-Erfahrungen für diese Form der Zugehörigkeit und Verantwortung verweist auf die Defizite einer konsumistisch-materialistischen Kultur, die aus dieser Sicht eine Form der Entfremdung ist. Die Forschung zu Biophilie/Biophobie hebt hierbei die sich jeweils verstärkenden Prozesse hervor: Menschen mit wenig direkten «Natur»-Erfahrungen entwickeln Ängste, wollen «Natur» kontrollieren und haben ihr gegenüber wenig Verantwortungsgefühl.iii
Wir sind hier bei einer zentralen, am besten «spirituell» zu nennenden Ursache der Klima- und Biodiversitätskrisen: «Natur» ist keine separate Entität, sondern wir sind untrennbar mit ihr verbunden und von ihr durchdrungen. Ist das «esoterische» Schwärmerei? Herrschende ontologische Dichotomien wie Körper-Geist, Mensch-Natur, et cetera bilden die Tiefenstruktur, auf der sich unser Konsumverständnis des Guten Lebens abstützt. Wir sind demnach nicht Natur, wir stehen ihr gegenüber und müssen sie kontrollieren und zu unserem Vorteil nutzen. Hieraus entsteht eine Fremdheit in der Welt, die lange Zeit «nur» Konsequenzen für unser Verständnis des Guten Lebens hatte, die aber nun die Grundlagen zerstört, die dieses Leben möglich macht. Die Erfahrungen von Verbundenheit hingegen sind ontologisch viel präziser, wie uns die moderne Ökosystemforschung zeigt.
Eine Neuausrichtung unserer Denkweise und Empfindung kann daher dazu führen, dass die erforderlichen Veränderungen in unserem Verhalten hin zu einer nachhaltigen Lebensweise nicht zu einem Verlust an Lebensqualität führen, sondern im Gegenteil eine positive Spirale entsteht. Dabei verbindet sich die Motivation für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft mit Erfahrungen von Sinn, Verantwortung, Zugehörigkeit und somit einem Guten Leben.
… und sich trauen sie zu leben
Allerdings gibt es einen psychologischen und einen epistemischen Einwand. Wir haben uns bestimmte Verhaltensweisen und Denkweisen angewöhnt und liebgewonnen; sie sind zu unserer «zweiten Natur» geworden. Daher wäre es falsch zu leugnen, dass eine Umstellung unserer Lebensweise vorübergehend mit Einbussen an subjektiver Lebensqualität einhergehen kann. Es ist jedoch von zentraler Bedeutung zu erkennen, dass diese Einbussen temporär sind. Gleichzeitig ist mit einer solchen Transformation aufgrund unserer begrenzten Vorstellungskraft ein Akt des Vertrauens verbunden. Denn Sinn, Zugehörigkeit, etc. sind Erfahrungen, die man machen muss; Studien dazu zu lesen, reicht nicht aus. Wie sich ein anderes Leben anfühlt, versteht man erst, wenn man es führt.
Menschen streben nicht nur nach Konsum und einem bequemen Leben, sondern auch nach Sinn und Zugehörigkeit. Wenn diese Thesen zutreffen, wird das Potenzial erkennbar: Die vorliegende Forschung zeigt, dass die Bewältigung der Krisen in eine positive Geschichte von Sinn, Zugehörigkeit und dem «Gelingenden Leben» eingebettet werden kann.
Anmerkungen
[i] Dass diesem Zielkonflikt auf dem epistemischen Fehlschluss beruht, dass man auch in Zukunft die Wahl zwischen dem heutigen und einem nachhaltigen Lebensmodell habe, ist wichtig festzuhalten, soll aber für die weitere Diskussion vernachlässigt werden.
[ii] Man muss an dieser Stelle allerdings aufpassen, keinen Kategorienfehler zu begehen, da biologische Adaptivität und unsere Vorstellungen eines gelingenden Lebens nicht zusammenfallen müssen.
[iii] Hierbei soll allerdings keinem romantisierend-schwärmerischen Naturverständnis das Wort geredet werden. Es geht um irrationale Ängste und affektive Reaktionen, die auf einem Mangel an Verständnis basieren.
Autor
Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. 2021 erschien sein Buch Grenzbeschreitungen, in welchem die hier vorgestellten Thesen ausführlich entwickelt werden.
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