Frau Bundi, aus der «Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV)» wurde Ende Oktober 2023 «Empirische Kulturwissenschaft Schweiz (EKWS)». Welche Überlegungen haben zum neuen Namen geführt?
Unsere Fachgesellschaft wurde im Mai 1896 gegründet, um der Erforschung des «eigenen Volkes» eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. In den darauffolgenden 127 Jahren haben sich in der Erforschung und Vermittlung von Alltags- und Populärkultur komplett neue Ansätze und Fragestellungen entwickelt. Die wissenschaftliche Disziplin und die Studienprogramme nennen sich heute «Empirische Kulturwissenschaft», «Europäische Ethnologie», «Kulturanthropologie» oder «Populäre Kulturen». Die Namensänderung, die wir partizipativ erarbeitet haben, soll diesem veränderten Fachverständnis Rechnung tragen. Gleichzeitig orientieren wir uns an den Fachbegriffen im europäischen Wissenschaftsumfeld. Darum lautet der deutsche Vereinsname «Empirische Kulturwissenschaft Schweiz», der französische hingegen «Anthropologie Culturelle Suisse».
Was heisst dies konkret – «verändertes Fachverständnis»?
Der Kulturbegriff hat sich erweitert, die Gegenstandsbereiche decken heute alle sozialen Gruppen und den ganzen Alltag ab, die Themen sind stärker gegenwartsbezogen und interdisziplinär. Innerhalb der Disziplin wiederum gibt es ganz unterschiedliche methodische Ausrichtungen und thematische Orientierungen. Es gibt aber auch viele Anknüpfungspunkte an die Fachtradition: So wählte die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde vor rund hundert Jahren Methoden der öffentlichen Datengewinnung, die heute unter Stichworten wie «kulturelle Teilhabe» oder «Citizen Science» weiterhin sehr aktuell sind.
Der Kulturbegriff hat sich erweitert, die Gegenstandsbereiche decken heute alle sozialen Gruppen und den ganzen Alltag ab, die Themen sind stärker gegenwartsbezogen und interdisziplinär.
Im neuen Leitbild steht, dass die EKWS eine Forschungsinfrastruktur unterhält. Können Forschungsinfrastrukturen von Fachgesellschaften der modernen Forschungslandschaft noch einen Mehrwert bringen?
Forschungsprojekte bildeten über viele Jahrzehnte einen Tätigkeitsschwerpunkt unserer Gesellschaft, neben der Fachzeitschrift, der Fachbibliothek und dem Buchverlag. Diese Projekte, initiiert von prominenten SGV-Akteuren wie Eduard Hoffmann-Krayer, Richard Weiss oder Paul Hugger, brachten nicht nur Forschungsergebnisse wie den «Altas der Schweizerischen Volkskunde» oder die 39-bändige Buchreihe «Die Bauernhäuser der Schweiz» hervor. Es entstand dadurch auch ein einzigartiges multimediales Archiv, unter anderem mit dem Nachlass des Fotografen Ernst Brunner oder der Volksliedsammlung von Hanns In der Gand. Das EKWS-Archiv wird auch heute noch intensiv genutzt, beispielsweise im Rahmen des SNF-Sinergia-Forschungsprojekts «Partizipative Wissenspraktiken in analogen und digitalen Bildarchiven PIA». Ob wir als Fachgesellschaft zukünftig diese Forschungsinfrastruktur selbst unterhalten können, ist allerdings offen. Forschungsprojekte und deren Infrastruktur benötigen heute enorme finanzielle Mittel. Auch die Strukturen einer Fachgesellschaft sind für grössere Forschungsvorhaben kaum geeignet, zumal Mittel in der Regel nur noch an Hochschulinstitute vergeben werden. Wir machen uns daher Gedanken zur Zukunft des EKWS-Archivs. Gerade weil dieses zur Identität der Gesellschaft gehört, wollen wir seine Existenz langfristig sichern – vielleicht in Partnerschaft und Zusammenarbeit mit öffentlichen Institutionen.
Forschungsprojekte und deren Infrastruktur benötigen heute enorme finanzielle Mittel.
Die EKWS ist eine national ausgerichtete Gesellschaft, Forschung geschieht aber zunehmend transnational. Wie geht die EKWS damit um?
Transnational vernetzte Forschende sind wichtig für uns als Mitglieder der EKWS, gerade weil unsere Disziplin in der Schweiz universitär wenige Standorte hat. In die Forschung selbst können wir uns angesichts begrenzter Ressourcen jedoch kaum einbringen. Für die universitären Institute, deren Angehörige in die Forschungsprojekte direkt involviert sind, ist dies einfacher. Es macht darum Sinn, dass wir diesen Part den Instituten überlassen und unsere eigene Tätigkeit auf Felder konzentrieren, wo wir direkt mitgestalten können.
Transnational vernetzte Forschende sind wichtig für uns als Mitglieder der EKWS, gerade weil unsere Disziplin in der Schweiz universitär wenige Standorte hat.
Der historische Kern vieler Fachgesellschaften besteht in der Publikation von Fachzeitschriften auf Subskriptionsbasis. Die Open-Access-Bewegung stellt diese Daseinsberechtigung zunehmend in Frage. Welche neuen Leistungen kann die EKWS in Zukunft anbieten?
Open Access hat zur Folge, dass Einzelpersonen wie auch Bibliotheken, wissenschaftliche Institute und zielverwandte Organisationen unsere Fachzeitschrift zunehmend digital und damit kostenlos beziehen. Eine Mitgliedschaft in der Fachgesellschaft ist für den Bezug nicht mehr Voraussetzung. Entsprechend ist die Mitgliederzahl unserer Gesellschaft in den letzten Jahren deutlich gesunken. Die Gründe, Mitglied zu bleiben oder unserer Gesellschaft neu beizutreten und dafür einen Mitgliederbeitrag zu zahlen, waren offensichtlich nicht mehr so klar. Mit dem neuen Namen wollten wir darum auch unsere Ziele, Ansprechgruppen und Tätigkeitsfelder überdenken und konkreter definieren. Gemäss neuem Leitbild sind wir das partizipative Netzwerk für Alumni·ae und Studierende sowie für Zugewandte und zielverwandte Organisationen. Unser Hauptanliegen ist, alle wesentlichen Akteur·innen zusammenzuführen, die in der Schweiz zu Alltags- und Populärkultur forschen oder diese einer breiten Öffentlichkeit vermitteln.
Unser Hauptanliegen ist, alle wesentlichen Akteur·innen zusammenzuführen, die in der Schweiz zu Alltags- und Populärkultur forschen oder diese einer breiten Öffentlichkeit vermitteln.
Zu den «wesentlichen Akteur·innen» zählt der Universitätsprofessor genauso dazu wie die ehrenamtlich tätige Kuratorin im Lokalmuseum. Wie können sie in einen Austausch gebracht werden?
Zentral ist die Frage, welchen Mehrwert eine Mitgliedschaft in der EKWS bieten kann. Wenn wir es schaffen, unsere vier Ansprechgruppen Forschende, Studierende, Alumni·ae und zielverwandte Organisationen über Veranstaltungen, Publikationen und Informationen gezielt zu vernetzen, dann bieten wir einen konkreten Nutzen. Wir bringen Menschen zusammen, die sich sonst kaum treffen, beispielsweise über unsere geplante Studierendentagung «Berufseinstieg», wo Expert·innen aus der Praxis ihres spezifischen Berufsfeldes berichten. Idealerweise richten wir das Angebot so aus, dass sich zwischen den vier Ansprechgruppen der Kreis schliesst und die Öffentlichkeit profitiert. Dieser Prozess der Angebotsausrichtung benötigt jedoch Zeit.
Was ist eine moderne Fachgesellschaft und was soll sie leisten? Das ist die übergreifende Frage, die die Reorganisation begleitet und für alle Fachgesellschaften relevant ist. Was ist Ihre persönliche Antwort darauf?
Eine moderne Fachgesellschaft ist an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit tätig. Sie sorgt auf nationaler und regionaler Ebene für den Austausch zwischen den verschiedenen Ansprechgruppen und leistet durch Vernetzungsaktivitäten einen Beitrag an eine vielfältige und offene Schweiz. Sie ist professionell organisiert, handelt transparent und legt der Öffentlichkeit Rechenschaft ab über die von ihr geleistete Tätigkeit.