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«Philosophiegeschichte von Ionien nach Jena schreiben? Nicht unser Ding.»

Stella Noack & Christian Weibel (SAGW)

Gerald Hartung ist Mitherausgeber des auf mehr als 40 Bände ausgelegten «Grundriss der Geschichte der Philosophie» und will Philosophiegeschichte globaler betrachten. Dafür steuert er genussvoll auf methodologische Untiefen zu.

Herr Hartung, in den 1980er-Jahren soll auf der Türe eines Philosophieprofessors in Princeton gestanden haben: «History of Philosophy: Just Say No!». Können Sie das nachvollziehen?

Dieser Spruch ist ein Zeitsymptom. Es gibt in der Philosophie Phasen, in denen die historische Orientierung überwiegt, und Phasen, in denen man sich von der Last der Tradition freimachen will. Dieser Aushang ist Ausdruck einer Haltung, die sagt: «Wir haben genug Traditionslast. Wir sollten uns der Philosophie in ihrem ursprünglichen Sinn als sokratischem Dialog widmen und uns mit den Fragen der Zeit ohne Umweg durch die Geschichte auseinandersetzen.»

Was können Sie dem entgegensetzen?

Wir Philosoph·innen können unsere historische Verwurzelung nicht abstreifen. Zudem gewinnen wir wertvolles Orientierungswissen, wenn wir studieren, wie aktuelle Fragen vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden behandelt wurden. So erkennen wir, dass diese Auseinandersetzungen in unterschiedlichen historischen Kontexten anders geführt wurden und wir Dinge heute anders betrachten als Platon oder Wittgenstein.

Das Vorgängerwerk, der von Friedrich Ueberweg herausgegebene «Grundriss der Geschichte der Philosophie», blickt auf eine über 160-jährige Geschichte zurück. Wie unterscheidet sich Ihr «Grundriss» vom sogenannten «Ueberweg»?

Über zwölf Auflagen hinweg prägte Friedrich Ueberwegs «Geschichte der Philosophie» ein starker ideologischer Bias, der immer wieder sein Gesicht veränderte. Die erste Auflage des «Ueberwegs» erschien im Preussen der 1860er-Jahre und stand unter dem Eindruck eines anbrechenden Kulturkampfes. Entsprechend spiegelt sich in dieser Auflage eine dezidiert protestantisch-preussische Ausrichtung der Philosophiegeschichtsschreibung, die anti-katholisch und anti-französisch war. Die dritte und vierte Auflage, erschienen nach der deutschen Reichsgründung, war stark nationalistisch gefärbt und rückte die deutsche Philosophiegeschichte in den Vordergrund. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine kurze Phase der Internationalisierung – man arbeitete an einem Erweiterungsband zur Philosophie des Auslands –, die mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten abbrach. Als mein Kollege, Laurent Cesalli, und ich das Projekt 2018 übernahmen, stellten wir uns die Aufgabe, den noch immer vorherrschenden eurozentrischen Fokus zu erweitern.

Über zwölf Auflagen hinweg prägte Friedrich Ueberwegs «Geschichte der Philosophie» ein starker ideologischer Bias, der immer wieder sein Gesicht veränderte.

Sie sind ein Wissenschaftler mit kulturellen Wurzeln in Europa und wollen eine globale Philosophiegeschichte schreiben. Wie schaffen Sie es, den eurozentrischen Blick abzulegen?

Im Gegensatz zu Friedrich Ueberweg schreibe ich nicht allein eine Philosophiegeschichte. Laurent Casalli und ich sind die Herausgeber eines Gesamtprojekts. Wir bilden Teams für die einzelnen Reihen – Philosophie in Asien, Philosophie in Afrika und so weiter –, für die wiederum Expert·innen zuständig sind. Wie sind sozusagen Facilitator innerhalb der grossen Holding «Grundriss der Geschichte der Philosophie». Unsere Aufgabe ist es zuzuhören, was Andere zu diesem Konzept «Grundriss» beitragen möchten.

Wie sind sozusagen Facilitator innerhalb der grossen Holding «Grundriss der Geschichte der Philosophie».

Im Gegensatz zu Ihren Vorgängern streben Sie eine verknüpfte, vernetzte und globale Philosophiegeschichte an. Was ist dabei die grösste Herausforderung?

Philosophie ist im Mittelmeerraum entstanden und entwickelte sich zu einem grossen europäischen Exportschlager. Mit dieser Haltung ist die Philosophiegeschichte dann lange Zeit geschrieben worden. Das Bonmot von Franz Rosenzweig: «den Weg der Philosophiegeschichte von Ionien nach Jena zu schreiben», ist auch heute noch in den meisten Lehrbüchern der Philosophiegeschichte erkennbar. Davon wollen wir uns abwenden, ohne zugleich das Kind mit dem Bade auszuschütten. Einerseits möchten wir also anderen Regionen der Welt zusprechen, dass auch bei ihnen Ursprünge des Philosophierens liegen. Andererseits müssen wir das Konzept von Philosophie präzise halten, um zu verhindern, dass wir die Geschichte der Philosophie in eine allgemeine Geschichte des Denkens auflösen. Wir möchten weiterhin an den Kriterien arbeiten, was es heisst zu philosophieren, und zwar in unterschiedlichen kulturellen Kontexten.

Im Grundriss kommen auch wenig bekannte Denkerinnen und Denker zur Sprache. Welche Rolle spielen diese minores für eine umfassende Erschliessung der Philosophiegeschichte?

Es ist ein merkwürdiges Alleinstellungsmerkmal unserer Disziplin und deren Geschichte, dass wir von Denker zu Denkerinnen schreiben und Geschichte so stark personalisieren. Mit dem «Grundriss» möchten wir die Philosophiegeschichte näher an die Wissenschaftsgeschichte heranrücken, indem wir stärker ganze Debatten erfassen und Denkräume beschreiben. Alle Personen, die einen solchen Denkraum mitgestaltet haben, sei es durch institutionelle Einbindung oder Wirken in der Öffentlichkeit, sollen in den «Grundriss» aufgenommen werden. Diesem Anspruch auf Vollständigkeit, den im Übrigen bereits Friedrich Ueberweg verfolgte, eifern wir nach.

Mit dem «Grundriss» möchten wir die Philosophiegeschichte näher an die Wissenschaftsgeschichte heranrücken, indem wir stärker ganze Debatten erfassen und Denkräume beschreiben.

In Europa ist die Philosophie stark mit Schriftkultur verknüpft. Das ist in anderen Regionen der Welt anders. Amadou Hampâté Bâ hat 1960 das geflügelte Wort geprägt: «En Afrique, quand un vieillard traditionaliste meurt, c'est une bibliothèque inexploitée qui brûle.» Wie schreibt man eine (regionale) Philosophiegeschichte, die auf einer primär oralen Überlieferungstradition basiert?

Beim Blick auf Kulturräume, in denen orale Tradition dominieren, wird das die zentrale methodologische Herausforderung sein. Was ist eine Quelle? Welchen Traditionen trauen wir? Interessanterweise wirken solche Fragen auch auf unser europäisches Verständnis von Philosophie zurück. Wir wollen auch für Europa weg von dieser Schriftfixierung. Unsere schriftbasierte Tradition hat ihre Ursprünge in oralen Traditionen und es existieren weiterhin Praxisformen jenseits der Schriftlichkeit, die wie beispielsweise Podcasts zunehmend populärer werden.

Für das 20. Jahrhundert wird es schwieriger, die klassischen geographisch, sprachräumlich oder konfessionell orientierten Einteilungskriterien des Stoffs auf die Bände anzuwenden. Wie gehen Sie mit diesem Problem um?

Im 20. Jahrhundert werden Grenzen verwischt; darin unterscheidet es sich stark vom 19. Jahrhundert. Seit dem Ersten Weltkrieg ist das 20. Jahrhundert geprägt von Migrationsbewegungen. Gewisse Denkströmungen, wie die Phänomenologie oder die Kritische Theorie, strahlen in die ganze Welt aus. «Philosophie in Deutschland» oder «Philosophie in Frankreich» bilden für uns beispielsweise keine Einteilungsmuster mehr. Wir haben uns stattdessen zur Aufgabe gemacht, Denkströmungen des 20. Jahrhunderts, mit ihren europäischen Effekten und globalen Verzweigungen, präzise zu beschreiben.

Denkströmungen statt Sprachräume oder Landesgrenzen als Einteilungsmuster. Sie machen sich das Leben ganz schön schwer …

Zum Glück sind Denkströmungen keine Monolithe. Die Formation einer Gruppe, zum Beispiel des Wiener Kreises, kann auf eine neue Denkströmung hindeuten. Daraus ergeben sich neue Probleme wie die Trennung von Eigen- und Fremdzuschreibungen. Gehörte Martin Heidegger beispielsweise der phänomenologischen Schule an oder ist er gerade derjenige, der die Phänomenologie hinter sich lässt? Ein Prinzip des «Grundriss»-Projekts ist es, dass wir solche Probleme wie unsere Einteilungskriterien nicht kaschieren, sondern transparent machen wollen. Wir diskutieren derzeit, ob für die Reihe zum 20. Jahrhundert ein Einleitungsband nötig ist, in dem wir alle methodologischen Probleme dokumentieren.

Ein Prinzip des «Grundriss»-Projekts ist es, dass wir solche Probleme wie unsere Einteilungskriterien nicht kaschieren, sondern transparent machen wollen.Einzelne Bände des «Grundrisses» sind auch online verfügbar. Welche Herausforderungen und Potenziale bringt die digitale Ausgabe mit sich?

Die Nutzerinnen und Nutzer wollen sich keine Bücherwand ins Büro stellen, sondern punktuell Abschnitte aus unterschiedlichen Bänden nachschlagen. Daher müssen die einzelnen Paragrafen als Einheiten konsumierbar sein. Kaum ein Mensch liest heutzutage einen Band des «Grundriss» von vorne nach hinten durch. Online hingegen können verschiedene Artikel verlinkt werden. Dies bietet auch eine Chance.

Für den Anspruch, eine verknüpfte und vernetzte Philosophiegeschichte schreiben zu wollen, ist digital first also ideal?

Digital first ist nicht nur ideal, sondern notwendig. Dieser Anspruch erfordert idealerweise jedoch Personen, welche das Gesamtvorhaben im Blick haben. Nur so können wir diese Verknüpfungen gewährleisten. Das wird aber nur teilweise an den Schnittstellen der Reihen möglich sein. Den «Grundriss» herauszugeben ist und bleibt herausfordernd.

Über das Kuratorium

Den Gesamtherausgebern und dem Schwabe Verlag steht für das Projekt «Grundriss der Geschichte der Philosophie» ein Kuratorium der SAGW beratend zur Seite. Es wird von Gerald Hartung präsidiert.

Über Gerald Hartung

Gerald Hartung ist seit 2010 Professor für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Sein Forschungsgebiet ist die Philosophiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und die Editorik philosophischer Texte. 2019 hat er in Wuppertal das Institut für Grundlagenforschung zur Philosophiegeschichte (IGP) gegründet.