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«Die Naturwissenschaften lehren uns, wie man länger lebt, aber die Geistes- und Sozialwissenschaften lehren uns, wofür.»

Heinz Nauer

Cristina Urchueguía im Interview über die Entwicklung der Akademien und darüber, weshalb Grundlagenforschung in den Geisteswissenschaften förderpolitisch einen schweren Stand hat.

Es ist 9 Uhr morgens und Du kommst schon vom Sport ...

Ja, ich nehme mir jeden Morgen die Zeit entweder für Fitness oder für einen Spaziergang an der Aare. Heute war es ein Spaziergang. Ich bin unerreichbar und kann freischwebend denken: Es ist eine genussvolle und sehr produktive Zeit.

Hört die passionierte Musikwissenschaftlerin Musik dazu?

Nein, dazu höre ich keine Musik. Für mich ist Musikhören immer ein analytisches Hören und das kann anstrengend sein. Damit will ich nicht sagen, dass ich es nicht geniessen kann, Musik zu hören. Aber auch Stille ist etwas Wunderbares und beim Spazieren kann ich die Geräusche der Natur zulassen und Überraschungen im Akustischen einfach geschehen lassen.

In einem Aufsatz für das SAGW-Bulletin hast Du geschrieben, Musik gebe der Zeit durch Rhythmus, Takt und Wiederholung Form und Richtung. Sind das Prinzipien, die Du auch für Dein Zeitmanagement anwendest?

Man kann das so sehen. Musikalische Artefakte sind ja nicht amorph, Musik hat eine Choreografie – ein Anfang, mehrere Akte, in der Mitte vielleicht ein Adagio, ein Ende – ganz ähnlich wie zum Beispiel auch eine Sitzung oder eine Diskussion, die man führt. Ja, Formprinzipien in der Musik sind nicht nur ästhetisch, sondern auch prozessual zu lesen.

Du bist seit sechs Jahren Mitglied im Vorstand der SAGW, seit einem halben Jahr ihre Präsidentin. Anderswo ist eine Mitgliedschaft in einer Akademie mit hoher Reputation verbunden, in der Schweiz ist hier nicht sehr viel zu holen …

Es ist in der Schweiz sicherlich anders als in anderen europäischen Ländern. Wenn an der Königlichen Spanischen Akademie ein neues Mitglied gewählt wird, dann kommt das als Breaking News in den Nachrichten. Das ist mit viel Reputation verbunden, auch wenn man manchmal nicht genau weiss, was die Mitglieder in der Akademie dann eigentlich genau machen … Solche königlichen Akademien wie in Spanien sind als Innovations- und Technologie-Motoren der absolutistischen Herrscher entstanden und funktionieren top-down, von oben nach unten. Die SAGW hingegen, das lässt sich sehr schön in der neuen Jubiläumsgeschichte nachlesen, ist von unten entstanden, aus einem Bedürfnis der Forscher heraus, sich in Gesellschaften zusammenzuschliessen und zu organisieren.

Wenn an der Königlichen Spanischen Akademie ein neues Mitglied gewählt wird, dann kommt das als Breaking News in den Nachrichten.

Bleiben wir gleich bei den Fachgesellschaften. Du bist seit Langem auch Präsidentin der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft. Weshalb eigentlich?

Es gibt so viele Menschen, die nicht an einer Uni tätig sind, sondern beruflich etwas anderes machen, aber ihr Herz gleichwohl in der Wissenschaft haben und so einen Beitrag leisten zur Forschungslandschaft. Die Fachgesellschaften bieten die Möglichkeit, sie in den Diskurs und in die Gremienarbeit zu integrieren, was ich sehr wertvoll finde. Ohne Fachgesellschaften und ohne SAGW, die wiederum die Fachgesellschaften in ein Gesamtsystem integriert, würde dieses Potenzial wegfallen.

Das ist eingängig erklärt. Gleichwohl stellen wir immer wieder fest, dass viele nationale Fachgesellschaften unter Professionalisierungsdruck stehen und Schwierigkeiten haben, im Umfeld von Megatrends wie Transdisziplinarität und Open Access ihre Rolle neu zu definieren. Ist die klassische Fachgesellschaft nicht ein Auslaufmodell?

Dieses Lamento gibt es. Die Vereins- und Milizarbeit wird im Moment häufig als krisenhaft dargestellt – nicht nur im wissenschaftlichen Bereich. Es mag sein, dass einige Fachgesellschaften nicht mehr genügend Rückhalt haben in der heutigen Realität. Besitzstandswahrung kann nicht das Ziel sein und wenn etwas nicht mehr funktioniert, dann funktioniert es nicht mehr. Wir dürfen da nicht nostalgisch sein. Gleichwohl denke ich, dass das Vereinswesen auch grosse Vorteile hat. Es gibt keine flexiblere Organisationsform als einen Verein. Er kann ganz einfach gegründet und auch wieder aufgelöst werden und ist eine passende Form, als Gruppe neue Themen und Fragen aufzugreifen und Netzwerke zu bilden. Ja, das wissenschaftliche Vereinswesen lebt – das zeigt sich auch daran, dass die SAGW laufend neue Beitrittsgesuche erhält.

Besitzstandswahrung kann nicht das Ziel sein und wenn etwas nicht mehr funktioniert, dann funktioniert es nicht mehr. Wir dürfen da nicht nostalgisch sein.

Eine andere Ebene der SAGW ist ihr Vorstand: Unser Eindruck ist, dass er etwas in den Akten versinkt und seine Rolle insgesamt wenig definiert ist. Einverstanden?

Hmm. Mir kommt hier das Bild vom Elefanten und den fünf Blinden in den Sinn: Eine hält des Elefanten Rüssel und denkt, es sei eine Schlange, ein anderer dessen rechtes Hinterbein und denkt, es sein ein Baum, und so weiter. So erfährt auch jede und jeder die eigene Institution auf andere Weise, je nachdem, wo er oder sie in der Gesamtkonstruktion steht.

Der Vorstand hat unterschiedliche Funktionen: Zunächst repräsentiert er die verschiedenen Sektionen der Fachgesellschaften, zugleich werden durch ihn aber auch Beziehungen zu akademischen Stakeholdern hergestellt. So achtet man in seiner Zusammensetzung etwa darauf, dass die verschiedenen Universitäten und Hochschulen ausgewogen repräsentiert sind. Und klar, an den regelmässigen Sitzungen türmen sich die Akten manchmal wie der Mount Everest und man denkt, wann man heute wohl nach Hause kommen wird ... Da bleibt in der Tat wenig Zeit für inhaltlichen Austausch und grundsätzliche Denkarbeit. Diese findet anderswo statt, in Arbeitsgruppen und Kuratorien zum Beispiel. Es ist aber durchaus zu überlegen, wie man die Vorstandsmitglieder besser vorbereiten könnte. Ich denke hier an den Stand von Diskussionen, die zwischen zwei Vorstandstreffen in anderen Gremien oder im Generalsekretariat geführt werden, oder darüber, wo die Vorstandsmitglieder sich konkret über das Genehmigen von diesem oder jenem Geschäft hinaus einbringen und etwas bewegen können.

Die SAGW ist Teil eines sechsteiligen Akademienverbunds. Eine Evaluation, die das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation 2020/21 durchführen liess, bemängelte, dass es dem Verbund an einer gemeinsamen Vision fehle. Wie siehst Du das?

Im Rahmen einer gemeinsamen Organisationsentwicklung haben die Akademien in den letzten Jahren an diesem Thema gearbeitet. Es gibt die Vision, dass die Akademien einige definierte Querschnittsthemen im Sinne von Science to Policy und Science to Society gemeinsam bearbeiten. Infrastrukturen im Bereich Management, Personal oder Finanzen sollen gemeinsam genutzt werden können, ohne dabei aber gewachsene Strukturen zu zerstören. Bemühte man für den Akademienverbund früher die Metapher eines «Dachverbands», sprechen wir heute von einem «Fundament», auf dem alle sechs Einheiten zusammenarbeiten, ihre ganz unterschiedlichen Traditionen und organisationalen Eigenheiten aber bewahren.

Bemühte man für den Akademienverbund früher die Metapher eines «Dachverbands», sprechen wir heute von einem «Fundament»

Verlassen wir für einen Moment die Akademien und gehen zu anderen wissenschaftspolitischen Themen. Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) will das Förderformat für Doktorierende in den Geistes- und Sozialwissenschaften doc.ch per 2025 abschaffen. Nun regt sich Widerstand, auch von Dir. Wo liegt das Problem?

Doc.ch ist das einzige Förderinstrument, in dem sich Doktorandinnen und Doktoranden selber bewerben können. Es ist also ein Instrument der frühen wissenschaftlichen Emanzipation – das brauchen wir unbedingt. Dieses Instrument einfach zu streichen, finde ich falsch. Das ist für mich die Stossrichtung der Opposition gegen die Abschaffung, welche die SAGW einschlagen sollte. Wer das Instrument letztlich anbietet und finanziert, ob der SNF oder die Universitäten, scheint mir dagegen zweitrangig.

Was für oppositionelle Massnahmen sind geplant?

Wir wollen die verschiedenen Akteure – die Dekaninnen und Dekane der philosophischen Fakultäten, die betroffenen Fachgesellschaften et cetera – zu konzertierten Aktionen bewegen und ihre Stimmen lautstark bündeln. Wie genau, werden wir dann sehen.

Wenn Geisteswissenschaftler die Förderpolitik kritisieren oder beklagen, sprechen sie gerne von einer «Vernaturwissenschaftlichung» der Forschungsförderung. Ein passender Begriff?

Als Denkfigur finde ich die Formulierung der «Vernaturwissenschaftlichung» spannend. Ich denke aber nicht, dass jemand versucht, uns quasi von aussen zu «vernaturwissenschaftlichen». Viel eher haben die Leute, die sich eine naturwissenschaftliche oder medizinische Forschungsumgebung gewohnt sind, häufig einfach zu wenig Ahnung davon, wie Geisteswissenschaftler arbeiten, eigentlich will niemand etwas mit uns «tun», es wird einfach nicht an uns gedacht. Da gilt es entgegenzuhalten und zudem zu betonen, wie unglaublich billig die Geisteswissenschaften sind im Vergleich mit anderen Wissenschaftszweigen. Wir brauchen keinen Teilchenbeschleuniger, das Einzige was wir wirklich brauchen sind gute Bibliotheken und digitale Repositorien, sowie Zeit, um zu lesen, uns auszutauschen, zu schreiben und zu denken.

So ganz billig sind die Jahrzehnte oder manchmal auch Jahrhunderte dauernden Editions- oder Lexikonprojekte, für die Du Dich als SAGW-Präsidentin stark machst, aber auch nicht.

Auch im Bereich der Editionen fehlt oft die Sensibilität dafür, was die Geisteswissenschaften brauchen. Für die Naturwissenschaften gibt es einen politischen und gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Grundlagenforschung wichtig ist. Wenn im Cern das Higgs-Boson nachgewiesen werden kann, kommt es in allen Nachrichten, wenn ein neuer Rover den Mars betritt ebenfalls. Für die Geisteswissenschaften gibt es diesen Konsens nicht. Unsere Cerns, das sind die langfristigen Editions- und Katalogisierungs- und Digitalisierungsprojekte, sowie die nationale Datenmanagementprojekte wie das DaSCH, alle eben kleiner und ungleich billiger als ein Teilchenbeschleuniger. Dazu zählen für mich auch aus dem SAGW-Netzwerk Projekte wie das Inventar der Fundmünzen der Schweiz, Année Politique Suisse oder die traditionellen Editionen in der «Union Académique Internationale». Das sind allesamt Orte, wo in einer kompetenten, systematischen Form, Artefakte, Daten oder Texte über einen langen Zeitraum hermeneutisch behandelbar gemacht werden.

Für die Naturwissenschaften gibt es einen politischen und gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Grundlagenforschung wichtig ist. Für die Geisteswissenschaften gibt es diesen Konsens nicht.

Wo siehst Du einen Hebel, um die Akzeptanz solcher Projekte zu stärken?

Ich denke, hier muss man direkt bei der Politik ansetzen. Es gibt einen politischen Konsens darüber, dass Kulturerbe wichtig ist. Als Kulturerbe gelten jedoch meist nur Mauern, Steine, und nationale Geschichte, nicht aber Literatur, Musik und Artefakte oder Wissen über Kultur- und Sozialgeschichte. Wir sollten also versuchen, die Politik davon zu überzeugen, dass Kultur nicht von Geschichte getrennt werden kann und dass eine wissenschaftliche, grundlegende Sicherung dieser Kultur eine wesentliche Spielart von Grundlagenforschung ist.

Wir sollten versuchen, die Politik davon zu überzeugen, dass Kultur nicht von Geschichte getrennt werden kann.

Letzter Themenwechsel. Ich weiss, dass Dir die Verbindung von Forschung und Lehre an den Fachhochschulen ein grosses Anliegen ist.

Genau. Hier hat die Schweizer Forschungslandschaft ein Problem, das oft nicht genügend gesehen wird. Ich halte es für begrüssenswert, dass mit der Bologna-Reform Fachhochschulen einen Fuss in die Tür der Forschungslandschaft bekommen haben. Die Schweiz war aktiv darin, diese Integration zu ermöglichen. Nur hat man es verpasst, den Fachhochschulen gleichzeitig ein Mandat zu geben, die Lehre und die Forschung miteinander zu verbinden. An vielen Fachhochschulen sind Forschungsdepartemente entstanden, die spannende und innovative Forschung machen, aber keinerlei Beziehung haben zur Lehre. Das sehe ich als eine grosse Gefahr, die mal flächendeckend untersucht werden sollte.

Man hat es verpasst, den Fachhochschulen ein Mandat zu geben, die Lehre und die Forschung miteinander zu verbinden.

Eine Gefahr für wen denn?

Vielleicht ist Gefahr das falsche Wort, aber eine Dysfunktionalität ist es auf jeden Fall. Fachhochschulen schaffen im jetzigen System nicht, zu tun, was sie tun sollten, nämlich Forschungsergebnisse über ihre Absolventinnen und Absolventen schnell in die Gesellschaft zu implementieren. Solange an den Fachhochschulen die Forschungsdepartemente sich ausschliesslich selbst mit Drittmitteln finanzieren müssen und kein institutioneller Verbindungskanal zur Lehre geschaffen wird, wird sich daran auch nichts ändern. Mittlerweile übernehmen die Fachhochschulen, die selbst gar kein Promotionsrecht haben, in inflationärer Weise Promovierte von den Unis, die sie dann mit einem minimalen Pensum einstellen, damit sie Förderanträge einreichen, für die eine Promotion eine Bedingung sind. So wird das System am Laufen gehalten. Eigentlich absurd.

Hast Du noch ein Schlusswort?

In der Öffentlichkeit wird mit den Technik- und Naturwissenschaften meist nur ein Teil der Wissenschaft gesehen und abgebildet. Das finde ich schade. In einem Leserbrief an die Zeitung «El País» habe ich mal geschrieben: «Die Naturwissenschaften lehren uns, wie man länger lebt, aber die Geistes- und Sozialwissenschaften lehren uns, wofür und wie

Die Naturwissenschaften lehren uns, wie man länger lebt, aber die Geistes- und Sozialwissenschaften lehren uns, wofür und wie.