Von Sophie Moser
Die Stühle im Kongresszentrum auf der europäischen Seite Istanbuls sind bis auf den letzten Platz besetzt. Rund zehntausend Menschen warten gespannt auf die Aufführung, die jeden Moment beginnt. Diejenigen, die keinen Platz mehr ergattern konnten, verfolgen die Aufführung über grosse Leinwände auf dem Vorplatz. Die Bühne ist dunkel. Eilig huschen zwei Dutzend Kinder und Erwachsene heraus, begeben sich in ihre einstudierten Positionen und richten noch einmal ihre Kostüme: bodenlange Gewänder, die an die traditionelle Kleidung aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. erinnern sollen. Die Scheinwerfer gehen an.
Mehrere Wochen haben sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Die Taʿziyeh-Aufführung (von Arab. taʿzīya – Trost, Trauerveranstaltung) ist ein zentraler Teil von ʿĀschūrāʾ, dem wichtigsten Trauertag im schiitischen Islam. Die Kinder und Erwachsenen auf der Bühne werden die Schlacht bei der Stadt Kerbela im Jahr 680 n. Chr. nachspielen: Wie Ḥusain, der Sohn von ʿAlī, und seine Anhänger:innen von den Truppen des Kalifen Yazīd zehn Tage lang belagert wurden. Wie die Truppen nach zahlreichen Kämpfen Ḥusain und viele seiner Gefolgsleute schliesslich töteten und die Überlebenden verschleppten.
Die Schlacht bei Kerbala im heutigen Irak symbolisiert aus schiitischer Sicht die endgültige Spaltung des Islams in eine sunnitische und eine schiitische Glaubensrichtung. Der Spaltung liegt die Kernstreit zugrunde, wer nach dem Tod des Propheten Mohammeds die islamische Gemeinde anführen sollte: Während die eine Gruppe Abū Bakr, einer der ersten Anhänger des Propheten, als rechtmässigen Nachfolger betrachtete, befand die andere, der Prophet hätte seinen Cousin und Schwiegersohn ʿAlī ibn Abī Ṭālib für die Nachfolge designiert. Letztere bezeichneten sich als Schīʿat ʿAlī (Partei Alīs), woraus sich die heutige Bezeichnung schiitisch ableitet.
Zur Zeit jenes Richtungsstreits wurden grosse Teile der islamischen Welt von den Umayyaden unter dem Kalifen Yazīd von Damaskus aus regiert. Ḥusain, der Sohn ʿAlīs, führte die Schīʿat ʿAlī an. Zusammen mit 72 Anhänger:innen war er auf dem Weg zu Verbündeten, die einen Aufstand gegen Yazīd planten. Doch schiitischer Geschichtsschreibung zufolge kamen ihnen die Truppen des Kalifen zuvor und umzingelten sie bei Kerbela.
Die Belagerung begann am 1. Muḥarram – dem ersten Tag des ersten Monats im islamischen Kalender. Ḥusain und seine Leute wurden vom Wasser abgeschnitten. Immer wieder kam es zu Kämpfen. Yazīd wollte Ḥusain unter Druck setzen, um ihn dazu zu bringen, ihm die Treue zu schwören. Doch Ḥusain gab nicht nach. Am zehnten Tag endete die Schlacht mit dem tragischen Höhepunkt: Die Truppen töteten Ḥusain und viele seiner Familienmitglieder. Die Überlebenden, die meisten Frauen und Kinder, wurden nach Damaskus verschleppt.
Schon vierzig Tage nach der Schlacht machten sich Gefolgsleute Ḥusains auf den Weg nach Kerbela, um die Toten zu beklagen. Seither vollziehen Menschen schiitischen Glaubens auf der ganzen Welt jedes Jahr ʿĀschūrāʾ-Rituale (von Arab. ʿaschara – zehn, in türkischer Schreibweise aşura; bezogen auf den zehnten und letzten Tag der Schlacht) in Gedenken an die Schlacht. Sie begeben sich dabei in intensive Trauer und in das Nachfühlen des Leids, das Ḥusain und seinen Familienmitgliedern widerfahren war. Die Rituale beginnen am Abend vor dem 1. Muḥarram und enden am 10. Muḥarram, dem wichtigsten Tag, der jedes Jahr dem islamischen Kalender entsprechend festgelegt wird. Dieses Jahr fällt der Höhepunkt von Āschūrāʾ auf den 28. Juli. Die auf den 10. Muḥarram folgenden vierzig Tage gelten als Trauerzyklus für die bei der Schlacht Verstorbenen.
Auch in der türkischen Metropole Istanbul gelten die ʿĀschūrāʾ-Rituale als die wichtigste und emotionalste Zeit für die schiitischen Gemeinden. Deren Wurzeln reichen bis ins Osmanische Reich zurück. Während der Landflucht und der Migrationswellen in den 1960er und 1970er Jahren hatte es viele Schiit:innen nach Istanbul gezogen, das in jener Zeit immens wuchs und sich zu einer Millionenstadt entwickelte. Die meisten von ihnen kamen aus den nordöstlichen Regionen Kars und Iğdır der Türkei, einige immigrierten aus Aserbaidschan oder Iran nach Istanbul. Nach der Migration begannen sie, Moscheen zu errichten, monatliche Zeitschriften zu publizieren und öffentliche Trauerrituale in Erinnerung an die Schlacht bei Kerbela zu praktizieren. Sie gründeten Kinder- und Jugendgruppen, Sportvereine oder organisierten Veranstaltungen zu Feiertagen. Die Mehrheit der Istanbuler Schiit:innen lebt heute im Viertel Halkalı auf der europäischen Seite, doch sind ihre Moscheen in ganz Istanbul zu finden.
Wunsch nach religiöser und gesellschaftlicher Einheit
Aufgrund der Reden, die religiöse Autoritäten zu ʿĀschūrāʾ halten, meinen teilnehmenden Beobachtungen und meinen Gesprächen und Interviews mit Schiit:innen vor Ort, wird deutlich, wie gross ihr Wunsch nach einer religiösen und gesellschaftlichen Einheit mit der Mehrheitsgesellschaft ist. Unterschiede in der religiösen Praxis sollen nicht negiert, sondern als gleichwertig angesehen werden. Die schiitischen Gemeinschaften konnten noch bis in die 1990er Jahre ihre Rituale zu ʿĀschūrāʾ nicht in der Öffentlichkeit vollziehen. Das hängt damit zusammen, dass Mustafa Kemal Atatürk nach der Gründung der Republik 1923, Religion grundsätzlich aus dem öffentlichen Raum verbannen und zur Privatsache erklären liess. Dies war einer der wichtigsten Pfeiler des Laizismus, den Atatürk durchsetzen wollte. Die junge Republik musste sich nach dem ersten Weltkrieg und der Abschaffung des Kalifats, das das Osmanische Reich geprägt hatte, neu konstituieren. In diesem Rahmen beschloss er auch eine weitrechende Sprach- und Schriftreform, die das lateinische Alphabet einführte. Zudem wurden zahlreiche osmanische Begriffe durch türkische ersetzt und die Bevölkerung angehalten, die türkischen Begriffe zu verwenden. Die Gründung der Republik stellte einen Umbruch auf vielen Ebenen des Lebens dar – so auch in der Schaffung einer nationalen Identität, für die die Identifikation als türkisch elementar war, und die die Gesellschaft bis heute prägt.
Doch seitdem der sunnitische Islam gegen Ende des 20. Jahrhunderts für die nationale Identität immer bedeutender geworden, die Religion damit vermehrt in die Öffentlichkeit gerückt ist, hat sich das Verhältnis des Staats auch gegenüber den schiitischen Gemeinden verändert. Dieser Wandel bewirkte, dass es den schiitischen Gemeinden erlaubt wurde, ihre Rituale in der Öffentlichkeit zu praktizieren. Zudem wurde der grosse Platz vor dem Kongresszentrum vom Rat des Stadtviertels zum Aşura Meydanı (Āschūrāʾ-Platz) umbenannt. Mittlerweile erfahren die schiitischen Gemeinden eine stärkere Wertschätzung, was nicht zuletzt daran ersichtlich ist, dass ihre Rituale durch Sicherheitskräfte geschützt werden, und hochrangige nicht-schiitische Politiker:innen ʿĀschūrā in Istanbul besuchen. An der Veranstaltung zu ʿĀschūrāʾ 2022 im Kongresszentrum, in deren Rahmen die eingangs beschriebene Taʿziyeh-Aufführung stattfand, nahm auch Ekrem İmamoğlu, der Oberbürgermeister Istanbuls, teil. Dort hielt er eine Rede, in der er die Nähe und Verbundenheit der sunnitischen und schiitischen Glaubensgemeinschaften betonte - nicht nur in Istanbul, sondern in der ganzen Türkei.
Durch die immer prominenteren medialen Auftritte der schiitischen Gemeinden wächst auch in der nicht-schiitische Bevölkerung das Wissen über die schiitischen Mitbürger:innen und deren Traditionen. Für die schiitischen Gemeinden ist diese Sichtbarkeit sehr wichtig. Sie ist ein Zeichen dafür, dass ihre Glaubensgemeinschaft toleriert und ihre Zugehörigkeit zur türkischen Mehrheitsgesellschaft anerkannt wird. Gleichzeitig möchten sie zeigen, dass für sie die Einheit der Gesellschaft und die türkische Identität elementar sind. Als Ausdruck davon laden sie alle Mitbürger:innen zu den ʿĀschūrāʾ-Ritualen ein, organisieren Blutspendenaktionen oder aktuell Hilfe für die Erdbebenopfer im Südosten der Türkei.
Fehlende institutionelle Sichtbarkeit
Was die schiitischen Gemeinschaften jedoch immer wieder kritisieren, ist ihre fehlende institutionelle Sichtbarkeit. Da die Mehrheitsbevölkerung sunnitisch geprägt ist und das türkische Nationalstaatskonzept eine starke sunnitische Komponente hat, findet der schiitische Islam keine grosse Beachtung. So werden die schiitischen Gemeinden strukturell und institutionell nicht vom Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), das sunnitische Gemeinden unterhält, vertreten. Das bedeutet auch, dass sie keine staatlichen Förderungen für den Bau von Moscheen oder deren Unterhalt bekommen. Darüber hinaus zeigt sich die fehlende institutionelle Sichtbarkeit an den Statistiken zur Religionszugehörigkeit. Die türkische Bevölkerung wird lediglich als «muslimisch» erfasst, die Kategorie «schiitisch» ist nicht enthalten.
Während man die schiitischen Gemeinschaften also sicherlich auf den ersten Blick als «Minderheit» bezeichnen würde, ist diese Einordnung bei näherem Hinsehen gar nicht so einfach. Der Vertrag von Lausanne von 1923, der unter anderem die heutigen Grenzen der Türkei und Griechenland festlegte, und der bis heute für Bevölkerungsgruppen zentral ist, die als «Minderheit» (Türkisch: azınlık) gelten, definiert lediglich nicht-muslimische Gruppen. Da sich Schiit:innen selbst zweifelsfrei als Muslim:innen verstehen und auch vom Staat und der Gesellschaft so definiert werden, fallen sie nicht unter den Begriff «Minderheit». Dieser Umstand kann ihnen Benachteiligungen ersparen, wenn nicht ersichtlich ist, dass sie sich von der Mehrheitsgesellschaft in einem wichtigen Punkt unterscheiden. Er kann aber auch dazu führen, dass sie nicht davon profitieren, wenn der Staat die Situation von Minderheitengruppen verbessert. Ihnen fehlt also nicht nur die Erfassung als Gruppe, sondern auch der Schutz, der ihnen als anerkannte Minderheit zustünde, sowie die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft. So ist denn auch nicht einmal klar, wie gross die schiitischen Gemeinden in Istanbul eigentlich sind. Schätzungen gehen davon aus, dass in der gesamten Türkei heute etwa bis zu drei Millionen Menschen schiitischen Glaubens leben.
Die Erfahrung von der Schlacht bei Kerbela ist stark im kollektiven Gedächtnis verankert und hat eine identitätsstiftende Funktion. Aus dieser Erinnerungskultur hat sich das sogenannte Kerbela-Paradigma entwickelt, das auf die Gegenüberstellung von Ḥusain und Yazīd fokussiert: So wird Ḥusain als gut, Yazīd als böse, die Herrschaft des einen als legitim, die des anderen als illegitim dargestellt. Diese Unterteilung nutzten Schiit:iinen in der Geschichte, um auf Unrecht in der Politik oder in ihrer Gesellschaft aufmerksam zu machen. Das liess sich etwa im 20. Jahrhundert in Iran beobachten, als sich die Menschen gegen den Schah auflehnten. Sie sahen ihn als korrupt an und rebellierten gegen seine Herrschaft. Es ging dabei nicht um eine Unterscheidung von schiitisch und nicht-schiitisch, sondern um die Unterteilung in Gut und Böse, legitim und illegitim, moralisch und unmoralisch. Auch bei der Schlacht von Kerbela kämpften sie nicht um dogmatische Streitigkeiten, die die religiöse Praxis betrafen, sondern um die rechtmässige und legitime Führung der islamischen Gemeinde.
Vorbereitungen für ʿĀschūrāʾ
Das Āschūrāʾ Ritual wird auf der ganzen Welt heterogen praktiziert. Ein Kernelement aber ist das Schlagen auf die eigene Brust, um den Schmerz, den Ḥusain und seine Anhänger:innen erfahren hatten, nachzuempfinden. An manchen Orten, wie etwa im Süden Libanons, finden dabei auch Selbstgeisselungen statt, eine Form, die in den meisten Regionen und Ländern der Welt von religiösen Autoritäten verboten wird. Auch die Rezitation von Totenklagen ist zentraler Bestandteil des Rituals, ebenso die Loyalität innerhalb der Gruppe. Damals, während und nach der Schlacht, versuchten die Menschen sich gegenseitig zu schützen, sich mit Wasser zu versorgen, gleichzeitig wie sie um die Toten trauerten. Die zentrale Rolle der Loyalität lässt sich auch daran erkennen, dass die ʿĀschūrāʾ-Rituale grundsätzlich in der Gruppe vollzogen werden. Darüber hinaus ist das öffentliche, gemeinsame Begehen eines religiösen Rituals ein Bekenntnis zu seiner Glaubensgemeinschaft - gegen innen wie gegen aussen.
Die Vorbereitungen beginnen schon einige Wochen vor ʿĀschūrāʾ. Viele finden in den Moscheen und um sie herum statt. Das grösste Zentrum der ʿĀschūrāʾ-Rituale ist die Zeynebiye Camii. Die Moschee wird von Selahattin Özgündüz geleitet, der sich als Anführer der gesamten schiitischen Gemeinden in der Türkei versteht. Die alte Zeynebiye Camii wurde bei dem schweren Erdbeben 1999 zerstört. Der Neubau ist noch immer eine Baustelle, derzeit ist die Gemeinde dabei, die Fenster einzusetzen. Doch die Menschen lassen sich von den Bauarbeiten nicht stören.
Riesige Plakate mit Motiven von der Schlacht zieren das Kongresszentrum, in dem die Taʿziyeh-Aufführungen stattfinden. Ein typisches Motiv ist Ḥusain, wie er sich auf seinem Pferd mit wehendem Gewand den Truppen Yazīds entgegenstellt. Auch die Strassen, die zu diesem Kongresszentrum führen, werden von Plakaten und Bannern gesäumt. Sie hängen an Laternenpfählen, Hauswänden oder in den Schaufenstern der Geschäfte. Hinzu kommen schwarze Fahnen, die die Trauerzeit anzeigen sollen. Es ist offensichtlich, dass die wichtigste Zeit im Jahr kurz bevorsteht: Gerade in den Tagen vor den Ritualen herrscht überall geschäftiges Treiben. Einige Leute stehen auf Leitern und hängen die Plakate auf, verkaufen T-Shirts mit der Aufschrift «Ya Hüseyin» (Oh, Ḥusain), andere sortieren Kisten mit Getränken und Lebensmitteln, die sie die Trauenden verteilen werden.
Während in den vergangenen Jahrzehnten die ʿĀschūrāʾ-Rituale recht klein und nur für die Gemeinden vor Ort organisiert waren, werden sie heute von Zehntausenden von Gläubigen in Istanbul begangen. ʿĀschūrāʾ ist derzeit kein gesetzlicher Feiertag, was sich die Gemeinschaften jedoch wünschen würden. Aus diesem Grund wird ein grosser Teil der Trauerrituale abends durchgeführt, damit so viele Menschen wie möglich daran teilnehmen können.
ʿĀschūrāʾ-Rituale im Wandel
An den ersten neun Tagen im Monat Muḥarram finden in den Moscheen vor allem nach den Mittags- und Abendgebeten Veranstaltungen statt, die die schiitischen Gemeinden auf den tragischen Höhepunkt der Erinnerung an die Schlacht bei Kerbela vorbereiten sollen. In der Regel erzählt der Imam, was an diesem Tag der Schlacht geschah, und im Anschluss tritt ein sogenannter Meddah vor, der Totenklagen in Istanbul auf Persisch oder Aserbaidschanisch, seltener auf Türkisch vorträgt. Dies liegt daran, dass in Iran die Tradition der Totenklagen viel weiter zurückgeht als in den recht jungen schiitischen Gemeinden Istanbuls. Viele kennen die Texte noch aus ihrer Kindheit. Da nicht wenige Schiit:innen familiäre Wurzeln in Aserbaidschan und Iran haben, geben sie diese Tradition besonders gerne weiter. Die schiitischen Gemeinden in Istanbul sind durch den Zuzug aus dem Nordosten der Türkei, Aserbaidschan und Iran sehr heterogen, weswegen die ʿĀschūrāʾ-Rituale stets im Wandel sind. Bis ins Jahr 1991, als Aserbaidschan noch eine Sowjetrepublik war, konnte man auf den Strassen Plakate und Banner in kyrillischer Schrift finden. Daran wird die jüngere Migrationsgeschichte Aserbaidschans sichtbar, das mit der Türkei eine enge Verbindung hat.
Bei den Totenklagen wird der Tod Ḥusains oder eines Familienmitglieds oft gemeinsam betrauert. So sind alle zentralen Personen der Schlacht für einen Moment im Fokus. Begleitet werden die Klagen von den Gläubigen, die sich ringförmig um den Meddah versammeln und sich im Rhythmus der Klage in unterschiedlichen Intensitäten auf die Brust schlagen. Dabei nutzen sie entweder beide Hände, die sie zuerst nach unten fallenlassen, um Schwung zu holen und schliesslich zu Brust führen, oder die rechte Hand in einer ähnlichen, aber weniger intensiven Art und Weise. Dabei ruht die linke Hand auf dem Bauch. Während einige sich auf die Brust schlagen, weinen andere, wiederum andere verteilen Wasser und Süssigkeiten an die erschöpften Gemeindemitglieder, was nicht nur den Zusammenhalt stärken, sondern auch neue Energie für die langen Abende geben soll. Da die Moscheen in der Regel in Männer- und Frauenbereiche unterteilt sind, erfolgt dieser Teil des Rituals nach Geschlechtern getrennt. Der Meddah hält sich im Männerbereich auf. Die Frauen sind in den meisten Moscheen im oberen Stockwerk beheimatet und nehmen von dort aus an dem Ritual teil.
ʿĀschūrāʾ am 10. Muḥarram fängt bereits früh morgens an. Nach dem Gebet versammeln sich die Menschen bei den Moscheen, zehntausende kommen allein bei der Zeynebiye Camii zusammen. Von dort startet eine Prozession zum nahen gelegenen Kongresszentrum. Dabei versammeln sie sich in kleineren Gruppen von etwa zwanzig Personen und schreiten gemeinsam langsam voran. Dabei schlagen sie sich auf die Brust.
Oft tragen die Klagenden Stirnbänder, auf denen ein Name eines bei der Schlacht Verstorbenen steht. Die Farben schwarz, weiss, rot und grün prägen das Strassenbild. Dass es sich hierbei um Komplementärfarben handelt, ist kein Zufall. Während Schwarz als Farbe der Trauer und Weiss symbolisch für Reinheit gilt, steht Rot für die verfeindeten Truppen Yazīds und Grün für Ḥusain und seine Anhänger:innen. Diese Gegenüberstellung von Gut und Böse sowie Recht und Unrecht soll Yazīds illegitime Herrschaft unterstreichen. Diese Farben werden nicht nur in Istanbul, sondern weltweit zu ʿĀschūrāʾ verwendet.
Streben nach Orthopraxie
In den ʿĀschūrāʾ-Ritualen geht es aber nicht darum, die Unterschiede zur sunnitischen Glaubensrichtung zu betonen, sondern sie sind vielmehr ein Streben nach Orthopraxie, also den Glauben in Hoffnung auf Erlösung so richtig wie möglich zu praktizieren. Die schiitischen Gemeinschaften befassen sich bei ihren Veranstaltungen immer wieder mit der Frage nach der aus ihrer Perspektive richtigen Art der religiösen Praxis. Sie diskutieren etwa, wie sie am besten den bei Kerbela Verstorbenen gedenken und die Erinnerung an sie in ihren Alltag integrieren oder sich untereinander in ihrem alltäglichen Leben besser unterstützen können.
Einige Organisationen verteilen Sand aus Kerbela in kleinen Gläschen, den die Gläubigen mit Wasser vermischen und auf der Kleidung, im Gesicht oder in den Haaren verteilen. Der Sand soll eine Nähe zu Kerbela herzustellen. Der Sand, die Kleidung und nicht zuletzt das intensive und emotionale Schlagen auf die Brust zeigen, wie die Schiit:innen der Ritualpraxis auch eine körperliche Komponente hinzufügen.
Während sich immer wieder kleine Gruppen zusammenfinden und sich gemeinsam auf die Brust schlagen und dabei Ḥusain gedenken, beginnen viele Gläubige zu weinen. Die Tage um ʿĀschūrāʾ sind für sie Zeit der intensiven Trauer – alleine und in Gemeinschaft. Während der Prozession wird die Strasse von kleinen Ständen gesäumt, an denen Wasser und Essen verteilt wird – etwas, das Yazīds Truppen Ḥusain und seinen Anhänger:innen bei der Schlacht verwehrt hatte. Durch diese Gesten wird ihre Gemeinschaft und das Einstehen füreinander verdeutlicht. Am Ende der Prozession gelangen sie zum Kongresszentrum, in dem der Leiter der Gemeinde, Selahattin Özgündüz, eine Rede hält. In diesem Rahmen führen sie nun auch die Taʿziyeh auf, die sie zuvor über Wochen einstudiert haben.
Nach diesem Höhepunkt des gemeinsamen Erinnerns folgt eine vierzig-tägige Trauerphase, an dessen Ende Schiit:innen aus der ganzen Welt nach Kerbela pilgern, auch aus Istanbul. „Arbaʿīn“ (Arab. vierzig) ist die grösste Pilgerfahrt der Welt. Nach Angaben der Veranstalter:innen nehmen jährlich 15 bis 20 Millionen Gläubige aus der ganzen Welt daran teil. Sie ist damit deutlich grösser als die Ḥaddsch nach Mekka, die zu den fünf Säulen des Islams zählt. Ḥaddsch reisen üblicherweise bis zu drei Millionen Menschen an.
Einige Moscheen organisieren die Pilgerreise gemeinsam. Die Gläubigen treffen sich früh morgens, um die lange Fahrt auf sich zu nehmen. Sie fahren mit dem Bus bis Najaf, Irak, um von dort aus die letzten achtzig Kilometer nach Kerbela zu Fuss zurückzulegen. Ähnlich wie in Istanbul werden auch in Kerbela entlang der Strasse als Zeichen der gegenseitigen Unterstützung Getränke und Essen verteilt.
Die Zeit nach ʿĀschūrāʾ nutzen die Gemeinden zur Aufarbeitung des Erlebten. So teilen sie Fotos und Erinnerungen an diese Zeit miteinander, während es weiterhin immer wieder Veranstaltungen in den Moscheen gibt. Die Wochen im Monat Muḥarram sind für die schiitischen Gemeinden eine ganz besonders intensive Zeit. Trotzdem kann nun ein wenig Ruhe einkehren, bevor im folgenden Jahr die Rituale zu ʿĀschūrāʾ von Neuem beginnen.
Sophie Moser ist Doktorandin am Seminar für Nahoststudien, Universität Basel. Sie ist Mitarbeiterin im vom SNF geförderten Projekt „Kerbela am Bosporus: Aushandlungsprozesse religiöser Identität in schiitischen Gemeinschaften in Istanbul“. Zuvor studierte sie Islamwissenschaft und Anthropologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zu ihren Forschungsinteressen zählen religiöse Rituale, Identitätskonstruktionen und Erinnerungskulturen.
Weiterführende Literatur
Aghaie, Kamran Scot. The Martyrs of Karbala: Shi’i Symbols and Rituals in Modern Iran. 1. Auflage. Seattle: University of Washington Press, 2004.
Assmann, Aleida. Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 1. Auflage. 6331. München: C.H. Beck, 2018.
Chelkowski, Peter J., Hrsg. Eternal Performance: Ta’ziyeh and Other Shiite Rituals. London: Seagull Books, 2010.
Gölz, Olmo. „Kerbalaparadigma“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 15.06.2021.
Halm, Heinz. Die Schiiten. 3., Aktualisierte Auflage, Originalausgabe. C.H. Beck Wissen 2358. München: Verlag C.H. Beck, 2017.
Zarcone, Thierry. „La Communauté Chiite de Turquie à l’Époque Contemporaine“. In Les Mondes Chiites et l’Iran, herausgegeben von Sabrina Mervin, 135–62. Hommes et Sociétés. Paris; Beyrouth: Karthala; Institut Français du Proche-Orient, 2007.
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