Von Hanna Pahls
Am Al Manara Kreisel im Zentrum Ramallahs steige ich in ein Sammeltaxi Richtung Birzeit, der bekannten Universitätsstadt der palästinensischen Westbank. Nach zwanzig Minuten Fahrt erreichen wir den Campus. Am nördlichen Ende des Geländes befindet sich das Palästinensische Museum, mein Ziel für die kommenden zehn Tage: Ein langgezogenes, bunkerartiges Gebäude aus dem typischen weissen Stein der Region, das sich organisch in die terrassierte Landschaft einpasst. An einem klaren Tag kann man von hier aus bis zur Küste sehen. Es ist Mai 2023.
Das Palästinensische Museum ist das Leuchtturmprojekt der Nichtregierungsorganisation Taawon, die sich der Förderung und dem Erhalt palästinensischer Kultur verschrieben hat. Die Geschichte des Museums beginnt in den 1990er Jahren, als die Idee für die Gründung einer Gedenkstädte für die Nakba aufkam. Die Nakba, Arabisch für Katastrophe, bezeichnet die Vertreibung und Enteignung von mehr als 700'000 Palästinenser:innen vor und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948.
Doch der Weg dahin war alles andere als einfach. Die Gründung des Museums verzögerte sich durch den Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000. Erst 2013 wurde mit dem Bau begonnen. Bei der Eröffnung des Museums 2016 war das 24 Millionen Dollar teure Gebäude gänzlich leer. Bis heute beherbergt es keine Dauerausstellung – dafür fehlen die historischen Objekte, die zum grössten Teil in israelischen Museen zu sehen sind. Stattdessen zeigt das Palästinensische Museum regelmässig befristete Ausstellungen, meistens palästinensische Kunst oder ethnographische Objekte.
Zwischen September 2021 und Juni 2023 präsentierte das Museum seine erste historische Ausstellung: A People by the Sea: Narratives of the Palestinian Coast. Mit einem Fokus auf den Städte Jaffa, Akkon, Gaza und Haifa, erzählte sie die Geschichte der Palästinensischen Küste von 1748 bis 1948, von der Zeit des Osmanischen Reichs über das britische Mandat bis hin zur Nakba.
Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass die Geschichte Israels und Palästinas eine stark umkämpfte Thematik ist. Israeli:nnen und Palästinenser:innen blicken diametral gegensätzlich auf die jüngste Geschichte des Gebiets zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Dies ist im Hinblick auf den heutigen Konflikt zwischen Israel und Palästina besonders relevant: Denn Geschichte hat nie nur mit Vergangenheit zu tun, sondern ist aufs Engste mit der Gegenwart verbunden.
Zentrale historische Narrative
Auf palästinensischer Seite ist das zentrale historische Narrativ von der Nakba abgeleitet. Sie bildet die Wasserscheide, die die Geschichte Palästinas in ein Davor und Danach teilt. Die heutige Unterdrückung wird als Konsequenz dieses historischen Ereignisses gesehen, folglich bestehen viele Palästinenser:innen auf die vollständige Wiedergutmachung dieses Unrechts. Damit legitimieren sie auch den – teils gewaltsamen – Widerstand gegen Israel, selbst den Terroranschlag vom 7. Oktober 2023.
Auf der israelischen Seite bildet die Erinnerung an den Holocaust das zentrale historische Narrativ. Diese Erfahrung prägt auf grundlegende Weise die Wahrnehmung palästinensischer Terroranschläge. Die Staatsgründung Israels 1948 steht für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, die es um jeden Preis zu verteidigen gilt. Israel sieht sich in ständiger existenzieller Bedrohung durch seine arabischen und palästinensischen Nachbarn und begründet damit das militärische Vorgehen gegen Palästinenser:innen. So auch im aktuellen Krieg in Gaza.
Das Beispiel der Staatsgründung Israels 1948 zeigt, wie dieselben historischen Ereignisse grundsätzlich anders gedeutet werden können. Die israelische und die palästinensische Perspektive schliessen sich gegenseitig aus. Die nationale Geschichte ist zudem aufs Engste mit Identität verbunden, jeder Anspruch, das Narrativ des Gegenübers geltend zu machen, wird als Angriff auf die eigene Identität, gar auf die eigene Existenz gewertet. Um in der emotional aufgeladenen politischen Debatte um Identität, Recht und Unrecht im Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser:innen Klarheit zu gewinnen, muss man also nicht nur die Geschichte der Region besser verstehen – sondern auch die jeweiligen Narrative der beiden Seiten.
Dem Palästinensischen Museum kommt in dieser Frage eine zentrale Bedeutung zu: Denn Museen sind nicht Orte, in denen Realität und Geschichte einfach «neutral» abgebildet werden. Museen und Ausstellungen haben immer eine Kommunikationsabsicht, die man untersuchen, hinterfragen und kritisieren kann.
Auch die Ausstellung A People by the Sea, ist um ein zentrales Narrativ aufgebaut, das durch eine bestimmte Auswahl von Objekten, Beschreibungstexten und Präsentationsmitteln vermittelt wird. Was diese Ausstellung besonders spannend macht, ist, dass sie ein alternatives Narrativ sowohl zum nationalen palästinensischen als auch zum dominanten israelischen Narrativ entwirft und damit einen Wandel der palästinensischen Erinnerungskultur abbildet.
Die christliche Ikone
Der Rundgang der Ausstellung beginnt mit einem Abschnitt über Daher al-Omar al-Zaydani aus Galiläa, der 1748 in Akkon als lokaler Herrscher Unabhängigkeit vom osmanischen Reich erlangte. Danach verfolgt sie den sukzessiven Auf- und Abstieg der vier palästinensischen Küstenstädte Haifa, Gaza, Akkon und Jaffa bis zur Staatsgründung Israels 1948.
Das erste Objekt, das beispielhaft für die Perspektive der Ausstellung steht, ist eine christliche Ikone im Abschnitt über den Aufstieg Jaffas, eine Stadt, die heute Teil von Tel Aviv ist. Im späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert war die Stadt ein wichtiges regionales Handelszentrum und erlebte eine kulturelle Blütezeit. Die Ikone steht als Symbol für diesen Wohlstand. Auf ihr abgebildet ist die Vita des Heiligen Georg, der gemäss der Überlieferung im dritten Jahrhundert das Martyrium erlitt. Er ist als Ritter dargestellt, der zu Ross mit einer Lanze einen Drachen tötet. Um ihn herum sind 24 Stationen seines Lebens abgebildet. Jaffa ist auf der rechten Seite zu Füssen des Pferdes zu sehen. Der Begleittext besagt, dass die Ikone vom Künstler Yanko Teodori in Jerusalem angefertigt und 1875 vom wohlhabenden Bürger Gerges Debbas und seinen Söhnen einer Kirche in Jaffa geschenkt wurde.
Die Ikone ist aus mehreren Gründen überraschend. Sie ist mit einem Meter Höhe und 70 Zentimetern Breite nicht nur das grösste historische Ausstellungsstück, sondern auch eines der ältesten: Die meisten anderen stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Mehrheit sind Replikate. Zudem ist die Ikone eine der wenigen religiösen Objekte und gar das einzige christliche in der Ausstellung. Die hohe Kunstfertigkeit, mit der sie gestaltet wurde, und ihre zahlreichen goldenen Elemente lassen erahnen, wie wertvoll sie ist.
Was möchten die Ausstellungsmacher:innen mit diesem Objekt aussagen? Für Besuchende, die palästinensische Geschichte lediglich im Kontext des Konflikts zwischen der jüdischen Gemeinschaft innerhalb des historischen Palästinas vor der Staatsgründung Israels, dem Jishuv, und später jüdischen Israeli kennen, liefert das Objekt einen Gegensatz zu den gängigen Narrativen und erweitert damit die Perspektive auf die Geschichte der Region: Denn sowohl das dominante palästinensische wie auch das israelische Narrativ stellen das letzte Jahrhundert osmanischer Herrschaft als Zeit des Zerfalls und der Stagnation dar. 400 Jahre osmanische Herrschaft über das historische Palästina bleiben deshalb in vielen Geschichtswerken eine Randnotiz. Die Erzählung des modernen Palästinas beginnt meist erst mit dem britischen Mandat 1920.
Dieses Narrativ besagt, dass im osmanischen Reich allem voran durch den wachsenden Austausch mit Europa Entwicklungen angestossen wurden, die zur Modernisierung der Region führten. Moderne Landwirtschaft und Handel brachten zunehmenden Wohlstand in eine bis zu jenem Zeitpunkt unterentwickelte Region. Dieses Narrativ ist in einen weit verbreiteten normativen Modernisierungsdiskurs eingebettet, der oft eng mit Zielen nationaler Geschichtsschreibung zusammenhängt. Er präsentiert die lineare Entwicklung Palästinas von einem primitiven zu einem modernen Status, an dessen Ende der Nationalstaat steht – im israelischen Narrativ der Staat Israel, im palästinensischen der palästinensische Nationalismus. In beiden Narrativen sind ‘externe’ Faktoren Anstoss für diesen wachsenden Wohlstand, insbesondere die zionistische Einwanderung. Diese wird vom israelischen Narrativ als positiver, vom nationalen palästinensischen als negativer Katalysator gedeutet.
Daran zeigt sich, dass die beiden so unterschiedlich scheinenden Narrative tatsächlich viel miteinander gemeinsam haben. Sie starten von den gleichen Grundannahmen aus und gelangen zu gegensätzlichen Schlussfolgerungen. Erst die Wertung der Ereignisse, also wer die ‘Helden’ waren, und wer die ‘Bösewichte’, führen sie in andere Richtungen. Tatsache ist, dass das Bild des Zerfalls und der Stagnation der Region vor der Ankunft der jüdischen Siedler:innen eine eurozentrische Projektion ist. A People by the Sea hinterfragt diese Sichtweise und wählt das Narrativ eines arabischen Palästinas vor 1920, dessen Gesellschaft ‘modern’ und von Wohlstand geprägt war.
Abgrenzung eines palästinensischen ‘Selbst’
Bei genauerer Betrachtung der Ikone eröffnet sich eine weitere Dimension: Der Heilige Georg ist Schutzpatron der palästinensischen Christ:innen und wird auch von Drus:innen und zum Teil von Muslim:innen verehrt. Palästinensische Christ:innen sind ganz selbstverständlich Teil des Narrativs über die Prosperität Jaffas. Religionszugehörigkeit spielt in diesem Zusammenhang eher eine untergeordnete Rolle, sehr viel wichtiger scheint der ethnisch-nationale Bezug zu sein.
Der Legende nach stammte der Heilige Georg aus Lydda, dem heutige Lod, beziehungsweise al-Lidd in Israel, also aus dem Gebiet des historischen Palästinas. Die Ikone soll in erster Linie palästinensisch gelesen werden – oder, umfassender: arabisch. Dieser Eindruck wird durch die arabische Schrift auf dem Bild verstärkt. In diesem Sinne lädt die Ikone zur Identifikation ein und hat damit einen integrativen Charakter, der die religiösen Unterschiede in den Hintergrund treten lässt.
In dieser überreligiösen, ethnischen ‘Arabischheit’ ist eine Gruppe in der Ausstellung jedoch nicht abgebildet: die palästinensischen Jüd:innen. Diese Gruppe, die um die Jahrhundertwende rund fünf Prozent der Bevölkerung Palästinas ausmachte, wird weder in diesem Objekt noch sonst in der Ausstellung erwähnt. Dies ist Ausdruck einer expliziten Entscheidung für ein Narrativ, das Jüd:innen ausschliesslich als ‘externen’ Faktor sieht, gegen den das eigene ‘Selbst’ abgegrenzt wird. Dieser ‘externe’ Faktor, so die Implikation, löste die ethnische Einheit und das religiöse Nebeneinander auf, was beinah zwangsläufig zu Konflikten führen musste.
Die Situation im historischen Palästina zu Beginn des 20. Jahrhunderts war jedoch um ein Vielfaches komplexer. Palästinensische Jüd:innen waren keineswegs geschlossen für oder gegen die zionistische Bewegung und die Einwanderung europäischer Jüdi:nnen nach Palästina. Ihre Reaktionen auf die tiefgreifenden Veränderungen, die in jener Zeit stattfanden, waren gemischt, ethnische, religiöse, regionale und nationale Zugehörigkeiten konnten durchaus nebeneinander bestehen.
Statt diese Nuancen anzusprechen, wählt die Ausstellung jedoch eine strikte ethno-nationale Binarität. Die komplizierten Beziehungen zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen werden übergangen. Damit vergibt sich die Ausstellung die Möglichkeit, die verschiedenen Facetten der komplexen Geschichte der Stadt Jaffa und ihrer Bewohner:innen abzubilden, und bleibt letztlich in denselben Kategorien von ‘Selbst’ und ‘Anderen’ verhaftet, die auch die Grundlage für das nationale palästinensische und das israelische Narrativ bilden.
Die Nakba
Das zweite Objekt, das für die Thematik meiner Untersuchung interessant ist, ist Cold Floors, ein Werk des zeitgenössischen Künstlers und Theatermachers Amir Nizar Zuabi. Es befindet sich im letzten Raum des Rundgangs, der ganz der Nakba gewidmet ist. Über den Boden des Raumes zieht sich ein Mosaik aus Hunderten von bunten Fliesenscherben, die eine Karte der Stadt Jaffa bilden, wie sie vor der Nakba und ihrer teilweisen Zerstörung ausgesehen hatte. Die einzelnen Scherben sammelte der Künstler Zuabi am Strand Tel Avivs. Es sind die Überreste palästinensischer Häuser, die im Zuge der Nakba abgerissen wurden, und die das Meer nach und nach an den Strand zurückgespült hat.
Die Fliesen erinnern an die blühende Stadt Jaffa im frühen 20. Jahrhundert, gleichzeitig wie ihre Bruchstücke ein Bild ihrer Zerstörung zeichnen. Das Mosaik steht für die palästinensische Gesellschaft vor der Nakba, die modern, urban, industriell, aber auch zerbrechlich war. Das Kunstwerk vermittelt das Narrativ, dass die Nakba die aufwärtsstrebende Entwicklungslinie der palästinensischen Gesellschaft unterbrochen hatte: Der ‘einheimische’ Modernisierungsprozess wurde abrupt gestoppt, das palästinensische ‘Volk’, das zuvor eine ethno-nationale Einheit gebildet hatte, fragmentiert.
Dies steht im Gegensatz zu den dominanten Narrativen über die Geschichte Israel und Palästinas. Das israelische Narrativ minimiert die Bedeutung der Nakba und lehnt jegliche Verantwortung für die Vertreibung der Palästinenser:innen ab. Deren Flucht wird auf den Aufruf der arabischen Führung während des Palästinakrieges 1948 zurückgeführt. Auf der nationalen palästinensischen Seite ist es umgekehrt: Die Schuld für die Nakba wird allein paramilitärischen Gruppen vor der Staatsgründung Israels und später dem israelischen Militär zugeschrieben. Kritik an der eigenen Führung während des Krieges ist damit unzulässig. Das palästinensische Narrativ stellt die Nakba als tragische Katastrophe dar, der Palästinenser:innen schicksalshaft ausgeliefert waren. Sie wird als zentraler, nationaler Mythos konstruiert, der Vergangenheit und Gegenwart erklärt, aber auch zur Mobilisierung des kollektiven Widerstands und als integrativer Treiber für die nationale Gemeinschaft dient.
Die Kunstinstallation ergänzt die sachlichen Begleittexte um eine emotionale Komponente. Zurück bleibt ein Gefühl des unerfüllten Potentials und der Ungerechtigkeit. Das Narrativ balanciert zwischen affektiven Gedenkpraktiken und historischer Präsentation. Es ist ein Zugang, der sich für eine museale Behandlung dieses traumatischen historischen Ereignisses eignet. Zugleich verbindet das Mosaik die Nakba mit der Vergangenheit und der Gegenwart und konzipiert sie somit als andauernd. Dadurch, dass der Künstler die Überbleibsel der prosperierenden Küstenstadt sammelte, schlägt er eine Brücke zur Vergangenheit. Gleichzeitig betont er, dass sich die Zerstörung seiner Stadt, beziehungsweise ihres arabischen Charakters, bis heute fortsetzt.
Geschichte als Gegenwart
Durch seine dezidierte Gegenwartsbezogenheit und dem Aufzeigen der konkreten Auswirkungen, macht das Kunstwerk das historische Ereignis relevant für die heutige Zeit. Palästinenser:innen im Westjordanland wie im Ostjerusalem leben seit mehr als 50 Jahren unter israelischer Besatzung und sind zunehmend in ihrer Mobilität eingeschränkt, insbesondere seit dem Bau der israelischen Sperranlagen ab 2002. Diese Anlage wird von Palästinenser:innen als direkte Verlängerung der Nakba gesehen, ja als Teil von ihr.
«Wir verstehen politische Verantwortung für historisches Unrecht nur durch Narrative, die eine temporale Kontinuität herstellen und damit gegenwärtige Artikulationen kollektiver Identität in der Vergangenheit verankern», schreiben die Politikwissenschafter David Myer Temin und Adam Dahl von der University of Michigan in ihrem Text Narrating Historical Injustice: Political Responsibility and the Politics of Memory. Das Narrativ der andauernden Nakba ist dieser Link zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der die Zuweisung von Schuld und Verantwortung möglich macht. Das Kunstwerk klingt in dem Sinn wie eine Anklage.
Doch die Darstellung der Nakba als andauernd ist nicht problemlos. Erstens verkürzt und überdeckt sie damit Unterschiede, die durchaus zwischen der heutigen Situation und den Ereignissen um 1948 bestehen. Indem das historische Ereignis zu einem Prozess ausgeweitet wird, verliert der Begriff an historischer und analytischer Schärfe, insbesondere wenn er als Containerbegriff für alles Unrecht an Palästinenser:innen verwendet wird.
Zweitens ist das Konzept der ‘andauernden Nakba’ ebenfalls ein Narrativ, das einen historischen Ursprung hat und wandelbar ist. Diese Selbstreflexion bleibt in der Ausstellung aus. Das Museum ersetzt das nationale palästinensische und das israelische Narrativ mit einem neuen, vermutlich konstruktiveren Narrativ. Doch auf die wandelnde Bedeutung der Nakba in der palästinensischen Erinnerungskultur und Identität wird nicht eingegangen. Viel disruptiver und herausfordernder wäre es, auf die Gemachtheit aller historischen Narrative und deren Rolle in unserem Verständnis von Geschichte hinzuweisen und in der Ausstellung nicht die Illusion von - unhinterfragter - Realität zu erzeugen.
Am Ende der Ausstellung tritt man in einen Gang, welcher der gesamten Länge des Museumsgebäudes entlangläuft und dessen linke Seite eine einzige Fensterfront bildet. An einem klaren Tag hat man von hier aus einen atemberaubenden Blick auf die Küste. Die Ausstellung schliesst also mit einer kontemplativen Note: Die Küste ist zwar so nahe, dass man sie sehen kann, für die meisten Palästinenser:innen aus dem Westjordanland ist sie jedoch kaum erreichbar. Dies bringt zum Ausdruck, worin das Museum einen wichtigen Teil seines Auftrags sieht, und worin die Ausstellung letztlich einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Geschichte Israels und Palästinas leistet: Die Erinnerung aufrechtzuerhalten und an die nächste Generation weiterzugeben. Im übertragenen Sinn soll der Blick auf die Küste frei bleiben.
Hanna Pahls begann 2017 an der Universität Zürich ihren Bachelor in Geschichte mit Politologie im Nebenfach. Im Rahmen eines Austausches an der Universität Paris Cité belegte sie Kurse zur islamischen Geschichte und dem Nahen Osten. Für ihren Master in Zeitgeschichte absolvierte sie einen einsemestrigen Austausch an der Hebrew University of Jerusalem, wo sie einen Einblick in die Geschichte und aktuelle Lage dieser geschichtsträchtigen und zugleich konfliktreichen Region erhielt. Diese Erfahrungen waren der Anstoss für die Masterarbeit über das Palästinensische Museum, die auch die Grundlage für den vorliegenden Text ist. Um Recherchen für die Arbeit zu betreiben, reiste Hanna Pahls im Mai 2023 zum Museum nach Ramallah, führte Interviews und vertiefte sich in die Thematik. Durch all diese Erfahrungen ist ihr die Region sehr ans Herz gewachsen, und es ist ihr ein grosses Anliegen im Diskurs über den fortlaufenden Konflikt zumindest einen kleinen Beitrag zu leisten.
Weiterführende Literatur:
Bal, Mieke: Telling, Showing, Showing off, in: Critical Inquiry 18 (3), 1992, S. 556–594.
Campos, Michelle: Ottoman Brothers Muslims, Christians, and Jews in Early Twentieth-Century Palestine, Stanford, Stanford University Press, 2011.
Crysler, C. Greig: Violence and Empathy: National Museums and the Spectacle of Society, in: Traditional Dwellings and Settlements Review 17 (2), 2006, S. 19–38.
Goldberg, Amos: The ‘Jewish narrative’ in the Yad Vashem global Holocaust museum, in: Journal of Genocide Research 14 (2), 2012, S. 187–213.
Khalidi, Rashid: The Iron Cage. The Story of the Palestinian Struggle for Statehood, Boston, Beacon Press,2006.
Myer, Temin David, and Adam Dahl: Narrating Historical Injustice: Political Responsibility and the Politics of Memory, in: Political Research Quarterly 70 (4), 2017, S. 905–17.
Singh, Kavita: The Future of the Museum is Ethnographic, Public Lecture, Dr. Bhau Daji Lad Mumbai City Museum 16.11.2013. Online: https://www.youtube.com/watch?v=-2jPmfAgo3I, Stand: 24. 11. 2023.
Tamari, Salim: The Great War and the Remaking of Palestine, Berkeley, University of California Press, 2017.
Wermenbol, Grace: A Tale of Two Narratives: The Holocaust, the Nakba, and the Israeli-Palestinian Battle of Memories, Cambridge, Cambridge University Press, 20211.
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