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Kein Wein unter Palmen

Während der Kolonialzeit beschrieben Reisende oft ein Phänomen, das ihnen offenbar zutiefst rätselhaft erschien: Den lokalen Konsum von fermentiertem Palmwein. Die zahlreichen Reiseberichte sind ein Zeugnis von Vorurteilen, die bis heute Bestand haben.

Von Nina Studer

Am 12. November 1933 veröffentlichte die algerische Zeitschrift L'Africain einen Artikel, der sich der Frage von «Lagminismus und Alkoholismus in Tunesien» widmete. Lagminismus, also «der Alkoholismus, der durch den Missbrauch des Palmensafts, des fermentierten Lagmi, verursacht wird», stelle eine immense Bedrohung für Tunesien dar. «Die Bevölkerung Südtunesiens konsumiert grosse Mengen davon, fünf bis zehn Liter pro Person und Tag», hiess es. «Männer [machen einen] Anteil von 98 Prozent [aus]; Frauen selbst beginnen dieses Getränk zu mögen, dessen Alkoholgehalt acht bis zehn Prozent pro Liter beträgt.»[1]

Diese erstaunlichen Zahlen entnahm der Artikel einem Vortrag von Béchir Dinguizli, dem ersten in Frankreich ausgebildeten tunesischen Arzt. Er hatte im Oktober 1933 an der Académie Nationale de Médecine in Paris vor den Gefahren des exzessiven Lagmikonsums in Tunesien gewarnt. Die Zahlen verleihen den Anschein wissenschaftlicher Exaktheit – dabei gab es zu jenem Zeitpunkt keine breiteren Untersuchungen zu den Trinkgewohnheiten der kolonisierten Bevölkerung Tunesiens und schon gar nicht zur Verbreitung von Palmwein, der auf dem Land oft für den Eigengebrauch hergestellt wurde. Sowohl die Idee, dass der durchschnittliche Konsum von Lagmi bei fünf bis zehn Litern pro Person und Tag lag, sowie die Annahme, dass es sich bei 98 Prozent der Trinkenden um Männer handelte, entsprachen der subjektiven Einschätzung Dinguizlis.

Palmwein schien illustrativ für das Leben in der Kolonie und die «Natur» der Kolonisierten zu stehen

Obwohl der Zeitungsartikel in L’Africain Lagmi als eine ernstzunehmende Bedrohung für das Alltagsleben in der französischen Kolonie Tunesien darstellte, wusste man in Frankreich selbst wenig über die Geschichte und Verbreitung des Palmweins. Die einzigen Texte, die regelmässig den (Über-)Konsum von Lagmi beschrieben, waren Reiseberichte, die seit dem 18. Jahrhundert das Bild des «Orients» als Gegenstück zu Europa mitprägten. Einerseits bezeichneten die Reisenden – meistens waren es Männer – Palmwein als ein Phänomen, das ihnen illustrativ für das Leben in der Kolonie und für die «Natur» der Kolonisierten schien. Andererseits reagierten sie mit Überraschung und einem gewissen Unverständnis auf die unleugbare Popularität von fermentiertem Palmwein bei tunesischen Muslimen. Sie interpretierten dessen Konsum als einen Akt, durch den sozusagen mit jedem Schluck die Regeln des Islams gebrochen wurden.

Natürlich entzog sich die tunesische Realität dieser dichotomen Weltsicht, in der sich die gesamte muslimische Bevölkerung stets an die Regeln des Korans hielt. Manche sahen das Alkoholverbot im Koran einzig im Kontext des Gebets als gültig an oder fanden, dass es nur den Überkonsum betraf. Einige interpretierten es als Empfehlung statt als absolutes Verbot oder gingen davon aus, dass es sich bloss auf den im Koran ausdrücklich verbotenen Wein bezog, und dass der Prophet Mohammed andere Getränke – wie Lagmi – von diesem Verbot absichtlich ausgeschlossen habe. Wiederum andere schliesslich konsumierten Alkohol schlicht trotz des Verbots, nicht akzeptierend, dass dies einen endgültigen Bruch mit ihrem Glauben darstellten sollte.

Darin unterscheiden sich Muslim:innen nicht von Christi:nnen, die religiöse Ge-, und Verbote genauso unterschiedlich auslegen oder gerne mal grosszügig über sie hinwegsehen. Ein Beispiel hierfür ist das Verbot von Stoffen, die mit zweierlei Fäden gewebt wurden[2] – also Kleidung, die sowohl aus Wolle als auch aus Leinen bestand: Viele Christ:innen brachen dieses alt-testamentarische Gebot, ohne sich dessen bewusst zu sein; diejenigen, die davon wussten und sich trotzdem nicht daran hielten, gingen selbstverständlich davon aus, dass dies keine schwere Sünde darstelle oder dass das Verbot sie nicht betraf.

«Theologocentrism» und «Religious Paradigm»

Die Vorstellung, dass Muslim:innen keinen Alkohol trinken, ist noch heute in Europa fest verankert. Sie entspringt dem Denkmuster, das der französische Historiker Maxime Rodinson als «Theologocentrism» und die algerische Soziologin Marnia Lazreg als «Religious Paradigm» bezeichneten: Die Überzeugung, dass alle Handlungen und Charakteristika von Gläubigen auf ihre Identität als Muslim:innen zurückzuführen sind. Auch Edward Said, der amerikanische Intellektuelle und Autor des Standard-Werks «Orientalismus», beschrieb dieses Phänomen als Teil seiner Theorie des «Othering».

Diese orientalistische Haltung, die das Verhalten von Muslim:innen als per se anders als jenes von Nicht-Muslim:innen darstellt, kam bereits in den kolonialen Reiseberichten zu Palmwein in Tunesien zum Tragen, in denen Alkoholkonsum immer im Zusammenhang mit der religiösen Zugehörigkeit der Trinkenden diskutiert wurde. Meistens schrieben sie ausschliesslich über Männer – auch wenn manche Quellen, wie der Artikel in L’Africain, sich auch über eine angeblich wachsende Zahl muslimischer Konsumentinnen sorgten. Aufgrund dieser Fokussierung auf männliche Trinkgewohnheiten in der Quellenlage, beschränkt sich dieser Artikel auf das Konsumverhalten von muslimischen Männern.

Trotz des Alkoholverbots im Koran gab es in den Oasen im Süden von Tunesien eine Tradition des Alkoholtrinkens, die schon lange vor der Kolonialzeit existierte. Wann Lagmi genau entstanden ist, ist unbekannt; vermutlich hat der Konsum von Palmwein in Tunesien die Islamisierung Nordafrikas im 7. Jahrhundert überlebt oder sich sogar erst während der muslimischen Epoche verfestigt.

Palmwein oder Lagmi, soviel ist klar, war in Tunesien ein beliebtes Getränk. Anekdoten zum Konsum von Palmwein lassen sich aber auch in Reiseberichten über Libyen, Algerien und Marokko finden. Neben einer nicht-alkoholischen «süssen» Version, die heute noch während des Ramadans beliebt ist, gab es den fermentierten Palmwein, der – laut den französischen Quellen – einen Alkoholgehalt von vier bis zwölf Prozent hatte. Es scheint auch eine destillierte, hochprozentige Version gegeben zu haben. Doch die kolonialen Berichte bezogen sich fast ausschliesslich auf den gegorenen Palmwein.

Obwohl einzelne Reiseberichte diese lokale Tradition des Palmweinkonsums beschreiben, zeichnete die Mehrheit ein ganz anderes Bild: Sie gingen davon aus, dass eine abstinente muslimische Bevölkerung während der Kolonialzeit zum ersten Mal mit Alkohol in Berührung gekommen sei. Die meisten Texte interpretierten Alkoholkonsum und Alkoholismus bei Muslim:innen als eine Konsequenz der Kolonisierung und als etwas aus Europa Importiertes. Dass muslimische Fürstenhöfe schon vor der Kolonialisierung teuren europäischen Alkohol importierten, ignorierten die Berichte ebenso wie die lange Tradition von Alkoholproduktion und -konsum in Tunesien und der islamischen Welt insgesamt.

Im orientalistischen Denkmuster verfangen

Die meisten Augenzeugenberichte zu Lagmi im Süden Tunesiens waren also im orientalistischen Denkmuster verfangen, wonach alle Bräuche und Gewohnheiten von Muslim:innen durch deren Zugehörigkeit zum Islam erklärt wurde. Sie fokussierten auf die Tatsache, dass der Konsum von Alkohol einen Bruch mit dem Islam darstellte und hoben oft Erklärungen für diesen überraschenden Konsum von Palmwein hervor, die ihnen besonders irrationell erschienen.

Vor allem die Idee, dass Prophet Mohammed eine spezielle Ausnahme für Lagmi gemacht hatte, wurde regelmässig als humorvolle Anekdote wiedergegeben Fermentierter Palmwein könne von seiner Konsistenz her «leicht mit Weisswein verwechselt werden», schrieb etwa der französische Schriftsteller und Jurist Henri Richardot im Jahr 1905. Palmwein hatte aber gegenüber Weisswein «den Vorteil, dass er vom Koran nicht verboten wird.»

Es ist durchaus möglich, dass muslimische Palmweintrinker dem Schriftsteller Richardot diese Unterscheidung zwischen Wein – der im Koran ausdrücklich verboten ist – und Palmwein als Erklärungen für ihren Konsum nahegelegt hatten. Trotzdem spürt man in solchen Formulierungen eine gewisse Belustigung über diese grundlegende Unterscheidung zwischen Palmwein und anderen Formen von Alkohol heraus: Es ist, als unterstellte der Autor muslimischen Lagmi-Trinkenden entweder eine gewisse Scheinheiligkeit – da sie ihren Konsum mit dieser Unterscheidung rechtfertigten, obwohl sie wussten, dass Palmwein alkoholisch war – oder aber eine tiefe Leichtgläubigkeit sowie ein fehlendes Verständnis für die Realität. Beides – die Vorstellung einer muslimischen Unaufrichtigkeit und das Unwissen unter den Kolonisierten – gründet in der Vorstellung, dass es grundlegende, rassenbedingte Unterschiede zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten gab, und dass sich die Kolonisierenden auf einer höheren Entwicklungsstufe als die Kolonisierten befanden.

Neben solchen belustigten Kommentaren richteten die französischen Kolonialberichte ihren Fokus auf den ungewohnten Geschmack von Lagmi wie auch auf die negativen Konsequenzen, die durch den Konsum von Palmwein entstanden. Die Autoren betonten regelmässig, dass fermentierter Lagmi fade oder ungeniessbar sei. In einem Artikel aus dem Jahr 1907 führte etwa ein anonymer Autor aus, dass nicht-fermentierter Lagmi einen frischen und angenehmen Geschmack habe, während der fermentierte säuerlich sei: «Die Eingeborenen fermentieren ihn [den Lagmi], um sich dann mit diesem alkoholischen Getränk zu betrinken, das für Europäer einen unangenehmen Geschmack hat.»[3]

Die Vorstellung von tiefgehenden biologischen Unterschieden zwischen weissen und nicht-weissen Körpern 

Dieses Zitat macht eine Vorstellung deutlich, die viele Autoren teilten: Die Vorstellung, nämlich, von tiefgehenden biologischen Unterschieden zwischen weissen und nicht-weissen Körpern. Und die hatte weitreichende Konsequenzen. Sie führte unter anderem zur Theorie, dass nordafrikanische Körper Schmerzen nicht so spüren konnten wie europäische – was folgenschwere Folgen im Bereich der Kolonialmedizin hatte. So wurden gewisse invasive Eingriffe wie etwa die schmerzhafte Elektroschocktherapie im kolonialen Maghreb eher an muslimischen Patient:innen als an europäischen ausprobiert. Aber sie führte auch zu harmloseren Theorien, wie zum Beispiel jener, dass maghrebinisches Essen zu stark gewürzt sei für europäische Mägen und Gaumen, da sie biologisch feiner und zarter seien als tunesische, algerische und marokkanische. So sollte auch die Einschätzung von Lagmi als ein zu «grobes» Getränk für Europäer:innen in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Auch wenn fermentierter Lagmi französischen Siedler:innen und Tourist:innen meistens nicht mundete, war traditioneller Palmwein eines der bevorzugten alkoholischen Getränke der muslimischen Bevölkerung. Darin sahen viele französische Reisende ein Problem: Immer wieder beschreiben sie den übermässigen Konsum von fermentiertem Lagmi. Die Ärzte Roger Durand und Jacques Berrebbi, zum Beispiel, warnten in einem Artikel über die Fermentierung von Lagmi für die Archives de l’Institut Pasteur de Tunis aus dem Jahr 1936, dass viele Tunesier bei ihren allabendlichen Treffen unter Freunden jeweils acht bis zehn Liter fermentierten Lagmi trinken würden.[10]

Auch wenn sicherlich manche Tunesier:innen ein Alkoholproblem hatten und zu viel Lagmi tranken, war exzessiver Konsum nicht so weitverbreitet wie oft dargestellt. Zumindest scheint die Zahl von acht bis zehn Litern aus der Luft gegriffen, schliesslich entspräche sie in heutigen Massen gerechnet mindestens zwanzig Halbliter Bier. Doch das Klischee, dass Nordafrikaner per se masslos seien, war in Frankreich weit verbreitet und wurde wohl kaum hinterfragt. So warnte der einflussreiche französische Psychiater Antoine Porot in einer Beschreibung des Alkoholkonsums algerischer Soldaten im Dienste Frankreichs noch im Jahr 1918 vor «dieser den Primitiven eigentümlichen Masslosigkeit», die jeglichen Alkoholkonsum von Muslimen gefährlich mache. Diese konnte angeblich in allen Aspekten des Alltagslebens der Menschen Nordafrikas beobachtet werden. Kam jedoch Alkohol ins Spiel, wurde diese Masslosigkeit gefährlich: So beschrieben französische Beobachter im Kontext von Lagmi immer wieder Szenen intensiver Trunkenheit und einen damit einhergehenden Kontrollverlust – trotz des vergleichsweisen tiefen Alkoholgehalts des Palmweins.

Nicht nur die Masslosigkeit des Konsums erschien manchen Autoren gefährlich: Sie gingen auch davon aus, dass Palmwein eine besonders starke Wirkung auf die Körper der Trinkenden habe. Adrien Loir, Professor für koloniale Agrikultur, schrieb etwa im Jahr 1897: «In Sfax, Kerkenah, [und] Djerba sehen wir Eingeborene, die von Palmwein trunken sind. Die Trunkenheit, die durch diese fermentierte Flüssigkeit erzeugt wird, ist heftig, hält aber wenig an.»[5] Und auch vierzig Jahre später noch behauptete der französische Psychiater Pierre Maréschal in einem Vortrag zum Thema «Heroinsucht in Tunesien», dass «der tunesische Araber» eine klare Tendenz zur Sucht habe, was sich in allen Bereichen seines Alltagslebens zeige. Ein Beweis für diese Neigung zum Überkonsum könne man unter anderem darin sehen, dass der Tunesier «besonders starken Alkohol wie Boukha und Lakmi [sic]» trinke.[6] Der traditionelle tunesische Anis-Feigenschnaps, Boukha, war mit rund 40 Prozent Alkoholgehalt tatsächlich hochprozentig, wenn auch nicht stärker als die bei den französischen Siedler:innen und Tourist:innen beliebten Anisettes. Lagmi hingegen nicht. Statt Tatsachen drückt Maréschals Einschätzung von Palmwein als «besonders starkem Alkohol» wohl sein tiefes Misstrauen gegenüber lokalem Alkohol aus.

Die Ängste der europäischen Siedler:innen

Betrunkene muslimische Männer, so wurde regelmässig argumentiert, stellten aufgrund ihrer «angeborenen» Masslosigkeit und der angeblich besonders starken Wirkung ihrer bevorzugten alkoholischen Getränke eine Gefahr für Tourist:innen, Siedler:innen und Tunesier:innen dar. In französischen Zeitungen schürten Artikel Angst über die angebliche Kriminalität und Gefährlichkeit betrunkener muslimischer Männer unter Europäer:innen im kolonialen Maghreb. Im Laufe der Kolonisierung kam es deswegen immer wieder zu Versuchen, Konsum, Produktion und Verkauf von Lagmi einzuschränken, zu kontrollieren oder gar ganz zu verbieten. Die bereits erwähnten Ärzte Durand und Berrebbi führten zum Beispiel auf, dass die französische Kolonialregierung in Tunesien im Jahr 1936 wegen des hohen Alkoholkonsums Schritte in die Wege geleitet habe, «um den Verkauf von Lagmi zu regulieren und seine Produktion zu überwachen. Nur das frische [das heisst, nicht-fermentierte] Produkt kann zum Verzehr geliefert werden und Haftstrafen werden den Verkäufern und Konsumenten von Lagmi auferlegt.»[7] Diese strikten Regulierungen waren meistens nicht erfolgreich – was sich dadurch zeigte, dass es während der Kolonisierung Tunesiens eine ganze Reihe von solchen anti-Lagmi-Gesetzen gab. Sie waren wohl eher auf die Ängste der europäischen Siedler:innen zurückzuführen, als auf die tatsächliche Gefahr, die von Lagmi-Trinkenden ausging.

Darüberhinaus ging man davon aus, dass Tunesier aufgrund ihrer Trunkenheit nicht ihrer Arbeit nachgehen konnten, was wiederum den Fortbestand der Kolonie gefährde. Die Befürchtung, dass Lagmi zu einem finanziellen Verlust für Arbeitgebende in Tunesien führen würde, fand ihren Höhepunkt im eingangs erwähnten Vortrags des tunesischen Arztes Béchir Dinguizli aus dem Jahr 1933. Er warnte zwar, dass Alkoholismus sich während der Kolonisierung weiter in den tunesischen Städten ausgebreitet habe, aber die Gefahren des Alkoholismus schienen ihm weniger bedrohlich als die Konsequenzen, die der lokale «Lagminismus» für die Kolonie haben könnte.

Würde der Lagminismus «weiterhin voranschreiten, [sei] die Vitalität der Eingeborenen und der Wohlstand der Palmenhaine ernsthaft gefährdet».[8] Dinguizli befürchtete, dass der übermässige Konsum von Palmwein langfristig zu einer Senkung der Geburtenraten und zur Degeneration der tunesischen Bevölkerung führen würde, aber kurzfristig beschäftigten ihn vor allem wirtschaftliche Fragen: Seiner Meinung nach konnte am nächsten Tag nicht gearbeitet werden, wenn in der Nacht davor grosse Mengen von Lagmi getrunken worden waren: «Das Ergebnis ist, dass die Arbeitsleistung von Menschen, [die] nachts betrunken und tagsüber benommen [sind], als nahezu null anzusehen ist.»[9]

Hier sollte noch angemerkt werden, dass Dinguizli, aufgrund seiner Ausbildung und seiner professionellen und sozialen Stellung, zahlreiche französische Interpretationen übernommen hatte und in seinen Publikationen eine Vielzahl von kolonialen Klischees und Vorurteilen über Tunesier reproduzierte. Seine Besorgnis wurde von seinen französischen Kollegen wohl auch deshalb durchaus ernst genommen, weil er in seinen Texten koloniales Vokabular widerspiegelte und seine Aussagen zu «Lagminismus» den europäischen Theorien in vielem entsprachen.

Der "Wohlstand der Palmenhaine"

Dinguizli befürchtete, dass der Konsum von Lagmi den «Wohlstand der Palmhaine» gefährden könnte. Dies lässt sich dadurch erklären, dass oft davon ausgegangen wurde, dass eine ungebremste Produktion von Lagmi die Palmen zu stark ausnützen und schliesslich zerstören würde. Bei der Ernte von Lagmi wurde der Kopf einer Palme eingeritzt und der Saft gesammelt, was unter gewissen Umständen zum Verlust der Palme führen konnte. Das wurde aber natürlich von geübten Lagmi-Sammlern unter allen Umständen vermieden, da oft ihr Lebensunterhalt von diesen Palmen abhing. Europäische Autoren befürchteten jedoch, dass diese potentielle Zerstörung der Palmen die Oasen für französische Tourist:innen unattraktiver machen würde. Im eingangs erwähnten Artikel, der auf Dinguizlis Vortrag aufbaute, hiess es, dass eine der Konsequenzen des unkontrollierten Lagmikonsums «die Zerstörung der Palmen» sei, «was dazu führt, dass die Oasen weniger schön werden, da der schützende Schatten dieser Oasen verringert wird, was Touristen fernhalten und somit eine Quelle des Elends sein könnte». Die Tatsache, dass Lagmi in diesem Zeitrahmen wohl das beliebteste alkoholische Getränk der kolonisierten muslimischen Männer im Süden Tunesiens war – und in seiner nicht-alkoholischen Form auch ein wichtiger Bestandteil der Ernährung der ganzen Bevölkerung im Süden Tunesiens – scheint für den Autor des Artikels nebensächlich.

 

Nina S. Studer ist Historikerin und Arabistin, die sich in ihren Texten Fragen der Medizin- und Psychiatriegeschichte, von Gender und Trinkgewohnheiten in kolonialen Kontexten widmet. Sie schrieb ihre Dissertation mit dem Titel "The Hidden Patients: North African Women in French Colonial Psychiatry" an den Universitäten Zürich und Oxford. Ihr Interesse an kolonialen Reiseberichten zu Palmwein ist Teil einer grösseren Untersuchung zu Beschreibungen von Trinkgewohnheiten im kolonialen Maghreb, in der sie unter anderem die Geschichte von Absinth, Kaffee, Tee, Wein, Champagner und Orangina untersucht.

Weiterführende Literatur:

Dinguizli, Béchir. Alcoolisme et lagminisme en Tunisie. In: Bulletin de l'Académie Nationale de Médecine. Band 110, Nr. 33 (24.10.1933). 226-231. Abrufbar unter: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6237000p

Martinez, Francisco J. Drinking Dis-Ease: Alcohol and Colonialism in the International City of Tangier, c. 1912-1956. In: Ernst, Waltraud (Hg.). Alcohol Flows Across Cultures: Drinking Cultures in Transnational and Comparative Perspective. London/New York: Routledge, 2020. 61-83.

Studer, Nina S. It Is Only Gazouz: Muslims and Champagne in the Colonial Maghreb. In: Asiatische Studien. Band 73, Nr. 3 (2020). 399–424.

 

[1] Alle Übersetzungen ins Deutsche stammen von der Autorin. Zitat aus: Le Lagminisme et l'alcoolisme en Tunisie. In: L'Africain: Hebdomadaire Intercolonial. Nr. 191 (12.11.1933). 2. gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5707415p

[2] Levitikus 19:19

[3] Famille des Palmiers. In: Bulletin de la Direction de l‘Agriculture et du Commerce. Nr 44 (1907). 425-427. Hier: 426. 

[4] Durand, Roger/Berrebbi, Jacques. Étude sur la fermentation du vin de dattier ou lagmi. In: Archives de l’Institut Pasteur de Tunis. Vol. 25, No 1 (1936). 552-569. Hier: 555.

[5] Loir, Adrien. Les conditions sanitaires et l’hygiène en Tunisie. In: Revue Générale des Sciences Pures et Appliquées. La France en Tunisie. Paris: Georges Carré Éditeur, 1897. 106-114. Hier: 112.

[6] Maréschal, Pierre. L’héroïnomanie en Tunisie. In: Congrès des Médecins Aliénistes et Neurologistes de France et des Pays de Langue Française. Paris: Masson et Cie, Éditeurs, 1937. 255-259. Hier: 255. 

[7] Durand, Roger/Berrebbi, Jacques. Étude sur la fermentation du vin de dattier ou lagmi. In: Archives de l’Institut Pasteur de Tunis. Vol. 25, No 1 (1936). 552-569. Hier: 555. 

[8] Dinguizli, Béchir. Alcoolisme et lagminisme en Tunisie. In: Bulletin de l'Académie Nationale de Médecine. Band 110, Nr 33 (24.10.1933). 226-231. Hier: 226f. 

[9] Dinguizli, Alcoolisme et lagminisme en Tunisie, 229.

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