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Fastenbrechen per Videochat: Ein Schweizer Ramadan in Zeiten der Pandemie

Im Ramadan herrscht normalerweise auf den Strassen muslimischer Länder Feststimmung. Vielen Musliminnen und Muslimen in der Schweiz fehlte immer schon dieser feierliche, gesellige Teil des Fastenmonats. Jetzt hat die globale Corona-Pandemie Ramadan-Traditionen überall auf den Kopf gestellt.

Von Lara Höhn

Dieses Jahr findet ein Ramadan wie noch nie zuvor statt, wie die Bilder der menschenleeren Grossen Moschee von Mekka oder der ausgestorbenen Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem eindrücklich zeigen. Die Corona-Pandemie hat einen ganz zentralen Teil des muslimischen Fastenmonats, nämlich die sozialen Zusammenkünfte, verbannt. Wo sich in anderen Jahren Menschentrauben bei Sonnenuntergang durch die Eingänge der Moscheen zum gemeinsamen Abendgebet drängeln, herrscht gähnende Leere. Wo sonst bunte Lampen und Girlanden die nachts zum Leben erwachenden Strassen in eine feierliche Stimmung versetzen, haben die Regierungen Ausgehsperren verhängt. Anstatt mit einer grossen Zahl von wechselnden Gästen, brechen Gläubige dieses Jahr im engsten Familienkreis das Fasten.

Schweizer Moscheen geschlossen

Auch in der Schweiz können Musliminnen und Muslime in diesem Ramadan keine Moscheen aufsuchen, um mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern zu feiern. «Salam alaikum liebe Geschwister, der Ramadan steht vor der Türe und leider im 2020 mit einer speziellen Herausforderung; weil wir diesen wichtigen Monat nicht miteinander erleben dürfen und unsere gemeinsamen Gebete verrichten können. (...) Die Bestimmungen vom BAG sind klar. (...) Also sind wir zu Hause bei unseren Familien und sind mit unseren Gedanken bei Allah», so wurden die regulären Besucher einer Moschee in der Zentralschweiz vom Leiter per Gruppenchat einige Tage vor Beginn des diesjährigen Fastenmonats über deren Schliessung informiert.

Der Ramadan ist der neunte Monat des islamischen Mondkalenders. Laut der Überlieferung wurde dem Propheten Mohammed in diesem Monat der Heilige Koran durch den Engel Gabriel offenbart. Das Fasten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Ramadan ist eine der fünf Säulen des Islams und gilt somit als Pflicht. Das Fasten versetzt die muslimischen Gesellschaften einen Monat lang in einen Sonderzustand. In vielen muslimischen Ländern werden Arbeitszeiten verkürzt gehalten, Termine verringert, und in vielen Staaten geht die Aktivität der Produktions- und Handelsindustrie zurück. Während sich das Leben tagsüber verlangsamt, ist abends umso mehr los. Der Fastenmonat ist nicht nur eine Zeit, in der sich Musliminnen und Muslime mehr mit sich selbst und ihrer Beziehung zu Gott beschäftigen, sondern auch eine Zeit, in der das Gemeinschaftsleben aufblüht.

In Ländern wie der Schweiz, wo Muslime eine Minderheit sind, geschieht jedoch eher das Gegenteil: soziale Kontakte werden weniger. Durch das Auslassen von gesellschaftlichen Ereignissen, von Kaffeepausen am Arbeitsplatz bis hin zu Geburtstagsessen in Restaurants, verringert sich der Kontakt mit Andersgläubigen auch ohne «Social Distancing». So ist es beispielsweise für viele Berufstätige gar nicht möglich, sich in der lokalen Moschee mit Gleichgesinnten zum Fastenbrechen zu treffen. «Als Vollzeitbeschäftigte mit unflexiblen Arbeitszeiten und einer Pendelzeit, die über eine Stunde dauert, habe ich gar keine Zeit, den Ramadan in einer Gemeinschaft zu feiern», sagt Yasmine, die als Teamleiterin in einem Grossraumbüro in Zürich arbeitet und, abgesehen von einigen engen Freunden, keinen Kontakt zu Glaubensgenossen in der Schweiz hat. Ihr Beruf erlaubt es ihr nicht, während eines ganzen Monats ihren Alltagsrhythmus umzustellen, obwohl sie eine solche Vorstellung schön fände.

Müde vom Rechtfertigungsdruck

Dennoch geht auch in der Schweiz mit der Pandemie für viele Musliminnen ein Stück Gemeinschaftsleben verloren. Denn soweit es die Umstände sonst erlauben, versuchen viele, ihre Ramadan-Traditionen zu wahren. So füllen sich in anderen Jahren die lokalen Moscheen während des Fastenmonats, wo die Gläubigen in festlicher Atmosphäre zusammenkommen. Rihab, die mit ihrem Mann vor einigen Jahren von Tunesien in die Schweiz immigriert ist, erzählte mir letztes Jahr, dass das Paar die Moschee fast ausschliesslich während des Ramadans besuche. «Normalerweise macht es uns nichts aus, zu Hause zu beten. Während der Fastenzeit vermissen wir jedoch unsere grossen Familien und das gemeinsame Fastenbrechen sehr.» In der Moschee finden die beiden das Gefühl einer Gemeinschaft und die festliche Atmosphäre wieder, die sie in Tunesien im Ramadan in der Öffentlichkeit erlebt haben.

Einfach ist es nicht immer, diese Traditionen zu leben. In den Jahren, in denen das Iftar in die reguläre Arbeitszeit fällt, ist es für Muslime in der Schweiz oft schwierig bis unmöglich, das Fastenbrechen in Gemeinschaft zu feiern – von der Zeit, die es braucht, um ein Festessen für ein richtiges Iftar vorzubereiten, ganz zu schweigen. Es ist eine Erfahrung, die Layla nur zu gut kennt. Layla ist in der Schweiz geboren und hat türkische Wurzeln; ihr Mann hat Wurzeln in Libanon. Sie arbeitet vier Tage pro Woche in einem Grossunternehmen. Den Rest ihrer Zeit widmet sie ihrer zweijährigen Tochter. Wenn die Familie ihres Mannes zum Iftar vorbeikommt, was sie oft tut, dann muss Layla als gute Gastgeberin ein reichhaltiges und vielseitiges Mahl auftischen. Das ist nur schwer mit den Arbeitszeiten vereinbar. Zudem klagt Layla, dass es oft spät werde, bis die Gäste gingen und alles wieder aufgeräumt sei. So leidet sie während des Ramadan öfter an Schlafmangel. «Die soziale Seite im Ramadan ist eigentlich etwas sehr Schönes, und ich bin gerne in Gesellschaft. Aber manchmal, vor allem an Wochentagen, ist es einfach nicht leicht mit unserem westlichen Zeitplan», bemerkt sie.

Amin, der auf dem Bau arbeitet, entschied sich letztes Jahr, an Wochentagen nicht zu fasten. Denn die Temperaturen waren während des Fastenmonats in unerträgliche Höhen geklettert. So wäre das Fasten in Kombination mit Hitze und harter körperlicher Arbeit zum gesundheitlichen Risiko geworden. Aber nicht nur die Arbeitszeiten bereiten Musliminnen und Muslimen in der Schweiz im Ramadan Anstrengungen. Viele Gesprächspartner sagen, dass sie in der Schweiz immer wieder das Gefühl bekommen, das religiöse Fasten rechtfertigen zu müssen: Sie könnten ja «nicht einmal einen Schluck Wasser trinken», heisse es seitens Nichtmuslimen oft. Bei vielen Gesprächspartnern ist ein Muster in den Erzählungen erkennbar, nämlich dass sie in den ersten Jahren, in denen sie in der Schweiz lebten, gerne über das Fasten erzählten. Mit der Zeit jedoch begannen sie, sich nicht mehr auf solche Gespräche einzulassen. Denn oft, so berichten sie, sei das Gegenüber nicht genuin an der religiösen Praxis interessiert, sondern wolle einfach eine Legitimation für den Verzicht auf das Trinken von Wasser vor Sonnenuntergang hören, weil das nicht in die hiesigen Vorstellungen vom Fasten passe.

Yasmine hat hierzu eine interessante Beobachtung gemacht: Die Reaktionen fallen anders aus, wenn sie statt von Ramadan von einer reinigenden Diät spricht, die derzeit im Trend liegt. Sie vergleicht das Fasten im Ramadan mit «Intermittent Fasting», auch «16/8-Diät» genannt: Diese Diät sieht täglich einen Nahrungsentzug von 16 Stunden vor. Anhänger preisen die Diät als Mittel für die körperliche Reinigung, weil nach mehreren Stunden ausbleibender Nahrungsaufnahme im Körper die Autophagie einsetzt, ein Prozess von Abbau und Regenerierung körpereigener Zellen. Yasmine lehnt sich im Stuhl zurück, verschränkt die Arme und bemerkt schmunzelnd, dass die Menschen anders darauf reagierten, wenn sie ihnen erzähle, dass sie eine intermittierende Diät mache, als wenn sie sage, dass sie den Ramadan einhalte.

Home Office als Erleichterung?

Und so findet das muslimische Fasten in der Schweiz diskret statt, es macht sich nur subtil bemerkbar. Zum Beispiel daran, dass die Stapel leerer, fleckiger Papierkaffeebecher auf dem Schreibtisch meines fastenden Mitarbeiters verschwinden. Statt sich einen Kaffee zu holen, spaziert er im Ramadan in den Pausen lieber um den Block, «um etwas frische Luft zu schnappen». Die meisten Büroangestellten, mit denen ich sprach, erzählten mir, wie sie ihre Pausen während des Ramadans isolierter als während der übrigen Zeit des Jahres verbringen.

Mit dem Lockdown sind für viele die Momente entfallen, in dene sie gemeinsame Mittagessen oder Kaffeepausen mit Arbeitskollegen vermeiden. Mit der temporären Schliessung vieler Dienstleister hat sich der hektische Alltag beruhigt. Fatima aus Marokko, die im Kanton Zürich als Betreuerin in einer Kindertagesstätte arbeitet, hatte noch nie so viel Zeit für sich wie in diesem Ramadan, zumal die besagte Tagesstätte geschlossen wurde. Sie sieht im Lockdown eine Chance, «um mehr an sich selbst als Menschen zu arbeiten, und so einen Teil an die Gemeinschaft und unsere Welt beizutragen». So hat Fatima dieses Jahr mehr Geld als in den vergangenen Jahren gespendet. Einerseits sind die Ausgaben für die festlichen Iftar-Mahlzeiten ausgeblieben, anderseits sind dieses Jahr mehr Muslime auf finanzielle Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen.

Dieses Jahr nutzen viele Musliminnen die gewonnene Zeit aufrgund leererer Terminkalender und das Wegfallen der Pendelzeit, um Ramadan-Spezialitäten zu Hause zuzubereiten. Sie liefern die Spezialitäten nun zu Fuss, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto aus und legen sie in die Briefkästen von Freundinnen und Bekannten. In anderen Jahren schickten Verwandte im Ausland ihren Angehörigen zum Ramadan traditionelle Süssigkeiten und Gewürze. Solche Lieferungen sind dieses Jahr jedoch mit der drastischen Reduktion internationaler Transporte weitgehend ausgeblieben. Mit YouTube-Tutorials und in Videokonferenzen tauschen Frauen Rezepte aus. Die Spezialitäten aus der Heimat «gehören einfach zum Ramadan dazu», wie es Fatima ausdrückt. Für sie ist es die Harira, eine traditionelle marokkanische Suppe, welche Erinnerungen an die Fastenzeit in ihrer Kindheit hervorruft. Nach dem ersten Löffel Harira weiss sie, dass der Ramadan hier ist.

Soziale Medien: Ein Ort ohne Versammlungsverbot

Soziale Medien haben schon vor Covid-19 den Ramadan für Muslime verändert, ganz besonders in der Diaspora. Fatima, die bereits seit über zwanzig Jahren in der Schweiz ist, erinnert sich: Früher konnte sie nicht einfach «schnell, schnell» mit der Familie in Marokko per Videoanruf sprechen. Jetzt ist das alles anders, und Fatima ist froh darüber: «Man weiss, dass man nicht allein ist. In Amerika, Malaysia oder in Afrika, überall fasten sie.» Das gebe ihr gerade hier in der Schweiz viel Kraft und Unterstützung, sagt sie.

Soziale Medien sind im 21. Jahrhundert für viele ein wichtiges Medium für die religiöse Praxis geworden. Muslime können zum Beispiel religiöse Informationen zum Fastenmonat abrufen und auf interaktiven Websites Ramadan-Praktiken diskutieren. Leute zitieren den Koran in den sozialen Medien, senden sich Gratulationsbotschaften zu Feiertagen auf Chats, oder teilen Bilder mit unterhaltsamen Ramadan-Karikaturen mit ihren Freunden. Wegen der Ausgehverbote nutzen sie dieses Jahr vermehrt Videokonferenz-Tools, um gemeinsame Ramadan-Mahlzeiten und Gebete zu ersetzen. Das Internet ist somit nicht nur in der Diaspora ins Zentrum gerückt, sondern auch in muslimischen Ländern selbst. Es erinnert die Menschen im Lockdown daran, dass Gleichgesinnte auch am Fasten sind, oder dass sie zu einer grösseren muslimischen Gemeinschaft gehören.

Auch in der Schweiz nimmt die Bedeutung sozialer Medien für Musliminnen und Muslime im Ramadan unter dem Einfluss der Pandemie noch mehr zu. So erschienen in den Tagen nach der Nachricht über die Schliessung der eingangs erwähnten Moschee ständig neue Meldungen im Gruppenchat: Mitglieder teilten Rezepte untereinander oder organisierten Iftar-Mahlzeiten für den Imam der Moschee, der nicht mehr rechtzeitig in sein Heimatland zurückkehren konnte. Zu Hause übernehmen dieses Jahr oft die Väter oder ältesten Brüder die Rolle des Imams. Eine Familie verschickte im Gruppenchat ein Bild von ihrem Wohnzimmer, das sie mit liebevollen Dekorationen in ihre eigene kleine Moschee umgewandelt hatten, um die Gebete zu verrichten – und etwas festliche Stimmung aufkommen zu lassen.

Dieser Beitrag basiert auf der Feldforschung der Autorin für die Bachelorarbeit: «Being Muslim in Switzerland during the month of Ramaḍān. Experiences of practiced Islam in a non-Muslim country» (Universität Zürich 2019). Die Publikation ist Teil eines Pilotprojektes für Wissenschaftskommunikation der SGMOIK. Die ehemalige Nahostkorrespondentin Monika Bolliger betreut in diesem Rahmen AkademikerInnen beim Verfassen journalistischer Texte über Themen ihrer Forschung. 

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