Demnächst wird in der Schweiz über eine neue Vorlage zur Reform der AHV abgestimmt. Ob es gelingt, die Stimmbürger_innen von der Vorlage zu überzeugen, wird sich weisen. Unabhängig vom Abstimmungsausgang lässt die Debatte eine breite Diskussion um Grundwerte vermissen. Wie schon in den letzten drei erfolglosen Versuchen, die AHV zu reformieren, blockieren sich die politischen Kräfte gegenseitig. Einziger Konsens besteht darin, dass das Sozialwerk reformiert werden muss. Welche Art von Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel gemeint ist, und auf wessen Kosten sie erfolgen soll, bleibt umstritten.
Bis zur 9. AHV-Revision wurde jede Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung vom Parlament anstandslos verabschiedet und in Kraft gesetzt. Zwischen 1951 und 1979 passierte im Durchschnitt jedes dritte Jahr eine neue Revision das Parlament. Auch die 9. AHV-Revision, gegen die erstmals das Referendum ergriffen wurde, wurde in der Volksabstimmung komfortabel angenommen. Seither harzt es. Zwischen der 9. und der 10. Revision verstrichen 18 Jahre, weil man sich über die Frauenfrage uneins war. Erst mit Ruth Dreifuss gelang der Spagat, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen zusammen zu denken. Entstanden ist 1997 eine zivilstandsunabhängige Individualrente für alle. Vorher bezogen Alleinstehende eine Einzelrente, während für Ehepaare dem Ehemann eine Ehegattenrente zugesprochen wurde, welche die Mitversicherung der Ehefrau einschloss.
Der Schwung der erfolgreichen 10. Revision hat zu keinem weiteren Fortschritt punkto Gleichstellung und sozialer Sicherheit im Alter geführt.
Zum Modell des Ehemannes als Familienernährer passte, dass weder die Erwerbsarbeit der verheirateten Frauen, noch deren Familienarbeit in die Berechnung der AHV-Rente einflossen. Neu wurden Erziehungsgutschriften sowie als Pendant zur Witwenrente eine Witwerrente eingeführt. Gleichzeitig hob man das Rentenalter der Frauen um zwei Jahre auf 64 Jahre an. Die Postanalyse zur Abstimmung vor 25 Jahren zeigt, dass strukturelle Verbesserungen und im Besonderen die Gleichstellung in der Ehe entscheidend waren, um die Vorlage im Verhältnis 3:2 – nahezu unabhängig vom Geschlecht – anzunehmen. Seither ist der Reformeifer erlahmt. Der Schwung der erfolgreichen 10. Revision hat zu keinem weiteren Fortschritt punkto Gleichstellung und sozialer Sicherheit im Alter geführt. An seine Stelle tritt das Primat der ökonomischen Sicherung der AHV. Diese Entwicklung korrespondiert einesteils mit der Verschiebung des Diskurses und der Neuorientierung an Interessen anstelle von Bedürfnissen, andernteils erfährt Gleichstellung selbst einen Bedeutungswandel.
Vom Diskurs «Armut im Alter» zur Frage der Generationengerechtigkeit
Als 1948 das Bundesgesetz zur AHV verabschiedet wurde, ging es darum, Armut im Alter zu bekämpfen und einen Lebensabend in Würde zu ermöglichen. Auch wenn dieser Anspruch zu Beginn materiell nicht eingelöst werden konnte, war das Ziel unbestritten. Die in rascher Folge verabschiedeten Revisionen führten zu mehr beziehunsweise zu höheren Rentenleistungen. Mit der Einführung von Ergänzungsleistungen kam man auf dem Weg zu existenzsichernden Renten einen grossen Schritt voran.
Trotzdem ist Altersarmut bis heute real nicht besiegt, sondern lediglich aus dem öffentlichen und politischen Diskurs verschwunden. Die Sozialdirektorenkonferenz der Kantone bezeichnet in ihrem aktuellen Tätigkeitsprogramm Armut im Alter als «kein prioritäres Feld». Ihrer Ansicht nach sind Personen im Rentenalter «im Verhältnis zu anderen Altersgruppen in der Regel finanziell ausreichend abgesichert und gut versorgt» (S. 18). Unter der Voraussetzung, dass Armut die Altersgruppe der über 65-jährigen Bevölkerung generell betrifft, kann man diese Einschätzung teilen. Ausser dem biologischen Alter hat die besagte Altersgruppe jedoch wenig gemein. Die Lebenslagen der über 65-Jährigen sind so wenig homogen wie die der Gesamtbevölkerung. Auch Armut von Kindern – ein unbestrittener Tatbestand – erstreckt sich keineswegs auf alle Kinder.
Altersarmut ist bis heute real nicht besiegt, sondern lediglich aus dem öffentlichen und politischen Diskurs verschwunden.
Altersarmut betrifft vor allem Frauen mit einem lebenslang kleinen Verdienst, alleinstehende und ehemals alleinerziehende Frauen oder diejenigen, die dem früher dominanten Familienmodell entsprachen und ihre Erwerbsarbeit zeitweise oder dauerhaft aussetzten. Hinzu kommen neue Gruppen, z.B. Menschen ohne linearen Erwerbsverlauf oder solche, die für längere Zeit in ungesicherten Arbeitsverhältnissen (New Work, Platform Economy) leben. Über sie wissen wir mangels Analysen recht wenig. Ihnen gemeinsam ist jedoch, dass sie nach der Pensionierung wesentlich von der AHV abhängig sind. Ergänzend zur AHV, welche selbst nicht existenzsichernd ist, konnte jede Frau und jeder Mann Ergänzungsleistungen (EL) beanspruchen.
Bis Ende 2020 deckten die EL den Existenzbedarf sowie den erhöhten Bedarf bei Pflegebedürftigkeit ab. Seit der Revision des EL-Gesetzes wird der Personenkreis für Leistungen der EL eingegrenzt und der Bezug von Leistungen an die Lebensführung gekoppelt. Einzelne Erwerbsverläufe, Vermögensbildungs- und Arbeitsteilungsmuster werden durch das revidierte ELG begünstigt, andere geraten zwischen die Maschen des Gesetzes. Nicht lineare Aufstiegskarrieren, Lebensläufe mit Zäsuren und Phasen von Einkommensreduktion finden ebenso wenig Berücksichtigung wie Alternativen zur familialen Altersbetreuung. Meuli und Knöpfel haben wichtige Gruppen von Verlierer_innen und Gewinner_innen der Reform identifiziert. Nach ihren Ergebnissen wird die Revision der EL vor allem auf Kosten der Rentner_innen mit einem kleinen bis mittleren Vermögen ausgetragen. Besonders betroffen sind Rentner_innen im Pflegeheim. Sozialstrukturell trifft die EL-Reform vormals Selbstständige mehr als Angestellte, Hochaltrige mehr als jüngere Rentner_innen und Alleinstehende mehr als Ehepaare.
Allein aus demografischen Gründen sind wesentlich mehr Frauen als Männer von Armut im Alter betroffen und auf EL angewiesen. Die erwerbsarbeitszentrierte Ausrichtung der AHV und fehlende Geschlechtergleichstellung in der Arbeitswelt (welche sich noch geraume Zeit auswirken wird) verstärken die Armutsbetroffenheit von Frauen zusätzlich. Es ist deshalb zu befürchten, dass die verminderte Zugänglichkeit zu EL-Leistungen dazu beitragen wird, Altersarmut – im Speziellen von Frauen – zu erhöhen. Mit der Verschiebung des Diskurses von der Würde im Alter zur rein monetären gesamtwirtschaftlichen Betrachtung verflüchtigt sich der gesellschaftliche Nutzen der AHV zusehends. Anstelle von Geschlechtergerechtigkeit wird Generationengerechtigkeit eingefordert.
Generationengerechtigkeit vs. Geschlechtergerechtigkeit?
Fehlende Generationengerechtigkeit wird vor allem von Jüngeren ins Feld geführt, die im Sinne des Kapitaldeckungsverfahrens argumentieren und bezweifeln, dass in Zukunft noch genügend Ressourcen vorhanden sein werden, um die Rentenansprüche der eigenen Generation zu befriedigen. In der AHV sorgt seit jeher das Umlageverfahren dafür, dass Gelder für die Finanzierung der Renten zwischen den Generationen zirkulieren, wobei der spiralförmige Kreislauf jeweils zwei aufeinander folgende Generationen umfasst und die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter mit der jeweiligen Elterngeneration verbindet. Dieses System ist grundsätzlich offen gegenüber der Art der Finanzierung (Finanzquellen, Lastenverteilung), so dass die demografische Alterung bewältigt werden kann, ohne einzelne Bevölkerungsgruppen übermässig zu belasten. Die Bedenken der jungen Generation sind jedoch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt ernst zu nehmen. Denn Sozialversicherungssysteme benötigen einen Grundkonsens der Gesellschaft über die Sinnhaftigkeit des Tuns. Geht dieser Konsens verloren, zählt nur mehr das individuelle ökonomische Kalkül.
Das konterkarierte Modernisierungsargument
Einen Teil der Kosten für die Alterung der Gesellschaft einer spezifischen Bevölkerungsgruppe aufzubürden, ist mehrfach problematisch. Zum einen erfolgt die Teilfinanzierung künftiger Lasten aufgrund eines zugeschriebenen Merkmals, dem Geschlecht. In der Regel gelten zugeschriebene Merkmale als Kriterium für die Lastenverteilung als verpönt, weil sie wenig konform mit dem Anspruch einer modernen Leistungsgesellschaft sind. Zum anderen wird damit ausser Acht gelassen, dass sich die wirtschaftliche Lage sowie die Bedürfnisse der Geschlechter unterscheiden könnten. Bei anhaltender Ungleichheit kommt die Gleichbehandlung der Geschlechter einer Fortführung der bestehenden Geschlechterungleichheit im Alter gleich (vgl. Beitrag in Infosperber, demnächst publiziert).
Im Endeffekt führt die Erhöhung des Rentenalters für Frauen zu einer Umverteilung zugunsten der Rentner.
In der anstehenden Reform bezieht sich Geschlechtergleichstellung ausschliesslich auf das ungleiche Referenzrentenalter, ohne die Verteilungsungleichheit im Lebenslauf wie im Alter angemessen zu berücksichtigen. Folge der Geschlechtergleichbehandlung punkto Rentenalter ist, dass sich die Renditen für Rentner und Rentnerinnen angleichen. Indem die Zusatzeinnahmen aus der Rentenaltererhöhung dazu dienen, den Finanzmehrbedarf aufgrund der demografischen Alterung zu decken, führt die Erhöhung des Frauenrentenalters im Endeffekt zu einer Umverteilung zugunsten der Rentner. Der Einbezug der höheren Lebenserwartung der Frauen in das ökonomische Kalkül zielt in dieselbe Richtung. Folge davon ist, dass die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse durch die Rentenaltersanpassung konterkariert wird und die Reform letztlich die Geschlechterungleichheit vergrössert.
Festhalten an Geschlechterungleichheit auf ewig?
Mit der Entkoppelung der Diskurse um Armut und Würde im Alter und das Erreichen von Geschlechtergleichheit haben sich Interessen vor Bedürfnisse geschoben, was einer ökonomistischen Betrachtungsweise Vorschub leistet. Ging es in den vergangenen Revisionen darum, das AHV-Projekt – unter Berücksichtigung der finanziellen Möglichkeiten – an die gegenwärtigen Lebensumstände anzupassen und damit laufend zu erneuern, lautet die Frage heute konkret: Wie kann die Angleichung des Rentenalters der Frauen an die Männer so günstig wie möglich erfolgen? Die einseitige Belastung der Frauen ist unter Gerechtigkeitsprinzipien schwerlich zu legitimieren. Deshalb sollte dringend nach verträglicheren Lösungen gesucht werden.
Zur Autorin
Zur Autorin
Dr. A. Doris Baumgartner ist freischaffende Soziologin. Fachgebiete: Soziale Sicherung, Arbeit und Sozialpolitik mit Schwerpunkt Gender- und Generationengerechtigkeit.
Kontakt: a.d.baumgartner@bluewin.ch | www.ad-baumgartner.ch
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