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Zwischen Nothilfe und Friedensdiplomatie liegt Versöhnung

Tom Sommer, Initiator «Versöhnt-leben»-Konferenzen
Gesellschaft – Kultur – Sprache Recht und Politik

Versöhntes Zusammenleben ist auch 2022 keine Selbstverständlichkeit. Was ist dafür förderlich, was hinderlich?

Wenn Sie in der aktuellen Pandemie die Erfahrung gemacht haben, dass durch Meinungsdifferenzen und -gräben Ihre persönliche Versöhnungsbereitschaft arg strapaziert worden ist, ist Ihnen die oben erwähnte Frage vielleicht gut bekannt. So oder so, das Thema ist so alt wie die Menschheit. Friedens- und Konfliktforschung weltweit beissen sich die Zähne aus, um zu einem friedlichen und versöhnlichen Miteinander von Individuen, Ethnien und Nationen beizutragen. Die Bemühungen um Deeskalation der aktuellen Spannungen zwischen sogenannt westlichen und russischen Freiheits- und Friedensvorstellungen machen dies überdeutlich. Auch in der UN-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung wird der Friedenssicherung beziehungsweise der Vermeidung von Gewalt höchste Priorität eingeräumt (SDG 16).

Bei aller Wertschätzung gegenüber den weltweit tätigen Peace Agents (sie sind oft wahre Helden, was Vision und Ausdauer anbelangt): Auch über 10 Jahre nach dem «UN-Year of Reconciliation 2009» sind viele Gesellschaften unseres Globus immer wieder herausgefordert, Antworten zu finden – auf zwischenmenschliche Entzweiung, Gruppenkonflikte, Zerrüttung. Oder auch nur auf die geballte Faust, die es verunmöglicht, einen versöhnenden Händedruck zu wechseln. Wie Recht hatte die damalige indische Premierministerin Indira Gandhi, als sie diesen bildhaften Ausdruck 1971 in einer Pressekonferenz in Neu-Delhi verwendete.

Kein Tabu: Religion und Spiritualität in aussenpolitischen Kontexten

Welche Faktoren und Werte in Kontexten von Friedensförderung, Konfliktbeilegung oder wirtschaftlicher Entwicklung wirksam sind, ist eine äusserst komplexe Frage. Während Gewalt, Nothilfe und Friedensdiplomatie medial gesprochen schnell im Fokus sind, scheinen sogenannte «soft factors», die psychosoziale Ebene mit zum Beispiel psychologischen und religiösen Faktoren, weniger beachtet. Solche Faktoren sind jedoch immer, wenn auch teilweise subtil, wirksam und wichtig. Denn von diesen psychosozialen Faktoren kommt die Grundenergie für Prozesse, die auf die Wiederherstellung von Beziehungen gerichtet sind – oder gerade gegenteilig wirken. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit hat beispielsweise gemeinsam mit Hilfswerken im Jahr 2002 einen Reflexionsprozess eingeleitet, um zu untersuchen, ob Religion und Spiritualität in der Entwicklungszusammenarbeit ein Tabu seien. Durch den mehrjährigen, in einem umfangreichen Arbeitspapier dokumentierten Prozess wurden Religion und Spiritualität schliesslich als wesentliche Faktoren anerkannt, die in Entwicklungs- und Friedensbemühungen nicht ausser Acht gelassen werden dürfen.

Von psychosozialen Faktoren kommt die Grundenergie für Prozesse, die auf die Wiederherstellung von Beziehungen gerichtet sind – oder gerade gegenteilig wirken.

Jahre später (2018–2022) wurde an der Universität Bern eine interfakultäre Forschungskooperation zu «Religious Conflicts and Coping Strategies» ins Leben gerufen. Sie befasst sich mit der Bedeutung von Religion in sozialen und politischen Konflikten und will diese modellhaft beschreiben. Es gibt also ein breit abgestütztes Einverständnis, dass trotz aller Säkularisierung diese Dimension des Lebens als Deutungshorizont von Sinnfragen, als Hilfe zur Bewältigung existentieller Krisen oder als tägliche persönliche Ausrichtung in Meditation oder Gebet nicht verschwunden ist. Ob man von einer Renaissance sprechen kann, sei dahingestellt. 

John Paul Lederach als  Vordenker der weichen Faktoren von Versöhnung

2006 erklärte die 56. Generalversammlung der Vereinten Nationen das Jahr 2009 zum «Year of Reconciliation». Der Vertreter von Nicaragua wies damals in seinem Schlussvotum (Protokoll, engl. Version, S. 25) auf die von Experten anerkannte, tragende Rolle von «forgiveness, truth, justice and mercy» in den vielfältigen Beziehungen unter Menschen und für Friedensprozesse hin. Diese vier Begriffe sind dem Psalm 85 der Bibel entlehnt, und ihr Eingang in das Votum des nicaraguanischen Vertreters hat mit dem US-mennonitischen Soziologen und Friedensforscher John Paul Lederach (dessen Vorfahren aus der Region Bern stammen) zu tun. Er war als Vermittler zwischen den Fronten im Bürgerkrieg Nicaraguas (ab 1977) engagiert und hat seine tiefgreifenden Erlebnisse und Lehrerkenntnisse in wegweisender Art beschrieben. Zusammen mit seiner Familie erlebte er sogar Morddrohungen in dieser Zeit; diese Erfahrung half ihm später, Konzepte für Friedensvermittlungen zu erarbeiten. Er hatte erfahren, wie es sich anfühlt, zu Unrecht beschuldigt, verleugnet und ausgefragt zu werden. Er hatte Verständnis dafür bekommen, warum Menschen so tief misstrauisch sein können oder warum sie aus Angst hinter jedem Wort einen Doppelsinn und Verrat vermuten können. Zusammengefasst: Er gewann Verständnis für Menschen, bei denen rationale Argumente ihre persönliche Sichtweise kaum verändern konnten, wenn ihre Wahrnehmung tief in erfahrenem Schmerz und Leid verwurzelt waren.

Eine Konferenz zu Versöhnung vom 11.–12. Februar 2022 in Bern

Diese vielfältigen Erkenntnisse und Erlebnisse haben den Verein versoehnt.ch angeregt, psychologische und religiöse Faktoren miteinander ins Gespräch zu bringen, damit primär säkular orientierte Leute etwas in die religiöse Dimension hineinhören können, und mehr kirchlich orientiertes Publikum Wirkfaktoren anderer Lebensbereiche in Blick nehmen. Das verstehen wir unter Brücken bauen und Verständnis für verschiedene Positionen zu entwickeln. Der Verein widmet sich deshalb vom 11.­–12. Februar in Bern zum zweiten Mal in einer interdisziplinären Konferenz der Thematik der Versöhnungsprozesse.

Nach dem ersten Schwerpunkt über Chancen und Grenzen (2020) geht es diesmal um die Fragen, was hinderlich und was förderlich ist für ein versöhnliches Miteinander. Damit – bei aller Ernsthaftigkeit des Themas – eine gewisse Leichtigkeit nicht verloren geht, wird die Konferenz künstlerisch begleitet: Ein Künstler wird die Plenar-Inputs live illustrieren und kommentieren. Nach der Konferenz werden die Zeichnungen dann finalisiert und zu einem Buch verarbeitet – ein spezieller Beitrag zur nachhaltigen Betrachtung und Begegnung mit dem Thema, welches so alt wie die Menschheit ist.

Konferenzprogramm

Zum Autor

Tom Sommer: Verhaltens- und angewandte Tierschutzforschung liessen erstmalig das Stichwort Versöhnung aufleuchten, denn es sollten die artgemässen Ansprüche der Nutztiere mit den ebenso berechtigten Erwerbsansprüchen der Landwirte kombiniert werden. Heute heisst Brücken bauen, die verschiedenen Aspekte von Versöhnungsprozessen gemeinsam zur Sprache zu bringen.

Titelbild

Kampagnenbild der «Versöhnt-leben»-Konferenz 2022 (11.–12. Februar, Bern), versoehnt.ch

Open Access

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