Die Wildnispotenzial-Studie von Mountain Wilderness in Zusammenarbeit mit der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) definiert Wildnis als «geographischer Raum ausreichender Grösse, in dem natürliche Prozesse überwiegen. Wildnis ist vom Menschen nicht oder kaum verändert und es gibt weder Siedlungen, Infrastruktur, noch durch Menschen verursachte visuelle Störungen.» (Moos et al. 2019, S. 22)
Wildnis wäre also ein Raum, wo sich die Natur frei entfalten darf, wo auch Unvorhergesehenes gewährt wird, vom Menschen weder berührt, beeinflusst noch kontrolliert. In meinem Verständnis kann Wildnis auch auf kleinster Skala erlebbar sein, wo natürliche, dynamische Prozesse ungehindert ablaufen: Eine Blüte, ein alter Baum, ein Fels, ein frei fliessender Gewässerabschnitt. «Kleine wilde Ecken», wie sie Linda Surber (2022) in ihrem fotografischen Werk «Unwegsam» aufgespürt hat. Es gibt sie auch im städtischen Park zu geniessen, oder auf dem Naturspaziergang über Mittag. Grösserräumig gibt es sie in der Schweiz vor allem noch in alpinen Räumen oberhalb der Waldgrenze (Moos et al., 2019). Doch dort stehen sie stark unter Druck durch den fortschreitenden Ausbau der Wasserkraftnutzung als CO2-neutrale Energiequelle, die intensive Alpwirtschaft und die zunehmende touristische Erschliessung.
Angst, Bedrohung, Faszination und Sehnsucht zugleich
Die Erhaltung von Wildnis steht diametral zum Vorhaben der menschlichen Zivilisation, «sich die Erde untertan zu machen», die Natur zu nutzen und sicher zu machen. Wildnis ist bedrohlich, beängstigend, denn wenn die Naturkräfte übernehmen, verliert der Mensch die Kontrolle und es kommt Angst auf «vor Nutzungseinschränkung, Naturgefahren oder ökologischem Ungleichgewicht» (Moos et al., S. 95).
Gleichzeitig löst Wildnis eine grosse Faszination und Sehnsucht aus, lockt immer mehr Besuchende in die Natur. «Wildnisgebiete ermöglichen uns, eine Auszeit vom Zeitdruck der Leistungsgesellschaft zu nehmen, und einmalige Naturerfahrungen zu machen. Sie bieten dem Menschen Glück, Ruhe und Erholung, lassen uns Einsamkeit und Stille ... erfahren» (Moos et al., S. 20). «Das Erleben von Wildnis bildet einen wohltuenden Kontrast zur hektischen, reizüberfluteten, durchgeplanten Welt im Alltag der meisten Menschen, die in städtischen Agglomerationen leben – nicht nur für Kinder, die sich immer weiter von der Natur entfremden und entwicklungsphysiologische Defizite entwickeln, sondern auch für Erwachsene.» (Broggi und Hindenlang, 2022, S. 16)
Die letzten Jahrzehnte Umweltforschung und -praxis haben gezeigt, dass allein das Wissen um ökologische Zusammenhänge nicht ausreicht, um nachhaltiges Umweltverhalten zu erwirken
Die Wildnispotenzialstudie nennt elf Gründe für den Erhalt der Wildnis (Moos et al, 2019). Für den Menschen sind meiner Meinung nach die Gesundheit, Regeneration und Erinnerung zentral: Hineingehen in die wilde Natur ist wie heimkehren an die Quelle. Denn da kommen wir her, Wildnis ist unser ursprünglichstes «Zuhause». Wir brauchen das Urwüchsige, das in symmetrischer Ordnung Harmonische, moderiert von Zyklen und wechselseitigen Synergien. Die Wahrnehmung und Erinnerung daran, wie ein gesundes System in einer zeitlich-räumlich übergeordneten Balance funktioniert, wirkt regenerierend auf den Mikrokosmos unseres eigenen Körpersystems.
Empfundene Verbindung als notwendige Basis für ökologisches Handeln
Doch möchte ich einen Schritt weitergehen mit folgender These: In der Wildnis liegt ein Schlüssel, um die aktuellen ökologischen Herausforderungen an der Wurzel zu lösen.
Die letzten Jahrzehnte Umweltforschung und -praxis haben gezeigt, dass allein das Wissen um ökologische Zusammenhänge nicht ausreicht, um nachhaltiges Umweltverhalten zu erwirken. Es fehlt eine zentrale Ingredienz: Die Gefühlsebene (siehe dazu zum Beispiel Brosch, 2021). Wenn wir eine empfundene Verbindung zur wilden Natur aufnehmen können, erwächst daraus ein tieferes Bewusstsein von Ebenbürtigkeit, das gefühlte Wissen, dass wir als Mensch Teil der Natur sind. Erst auf dieser Grundlage kann das vorhandene rationale Wissen um Zusammenhänge und Lösungsstrategien auch tatsächlich umgesetzt werden. Wenn ich spüre: Das ist ein Lebewesen, dann entsteht ein intrinsisches Bedürfnis, diesem Lebewesen Sorge zu tragen.
Bewusste, reziproke Wahrnehmung der wilden Natur: ein Selbstversuch
Der bewusste Sinnesaufenthalt in der Wildnis unterstützt uns Menschen dabei, aus einem anthropozentrischen Naturverständnis, aus der vermeintlichen Trennung von Objekt und Subjekt, hinauszufinden, hin zu einem Bewusstsein von Verwandtschaft mit der natürlichen Welt. Die spirituelle Ökologin Geneen Marie Haugen (2011) nennt es «Participatory Consciousness», inspiriert durch den Kulturhistoriker und Ökotheologen Thomas Berry: ein tief empfundenes Bewusstsein von Reziprozität in einem gemeinsam belebten Ökosystem von Flüssen, Bergen, Mikroben und Galaxien.
Wenn ich spüre: Das ist ein Lebewesen, dann entsteht ein intrinsisches Bedürfnis, diesem Lebewesen Sorge zu tragen.
Seit einigen Monaten übe ich dies nun: Ich bewege mich achtsam durch die wilde Natur, nehme sie bewusst mit allen Sinnen wahr und stelle mir vor, dass die Natur mich in einem reziproken Interesse ebenfalls wahrnimmt; dass die tausend Pflanzen, Tiere, Steine mich ebenfalls bemerken und empfänglich sind für die achtsame Weise, mit der ich mich ihnen zuwende. Ich lasse mich bewusst und spielerisch auf diese potenzielle Wirklichkeit ein, eine Art Neukalibrierung meiner Wahrnehmung (Haugen, 2019).
Aus forschender Neugier begonnen, hat mir dieser Selbstversuch eindrücklich Zugang zu einer bewussteren Fürsorge für die Natur eröffnet, und einer tieferen Erkenntnis der Wirkung meiner Handlungen. Es beginnt im ganz Kleinen: Wenn ich davon ausgehe, dass die Mücke mich ebenfalls wahrnimmt, fällt es mir schwer, sie totzuschlagen, nur weil sie mich in meiner Nachtruhe stört. Beim Jäten im Garten beobachte ich, wie ich mich ernsthaft frage, wer ich bin, die entscheidet über «gut und böse», welches Pflänzchen leben darf (die Nutz-Pflanze) und welches ausgezupft wird (das Un-Kraut). Wenn ich diese Erkenntnis aufskaliere sehe ich die Parallelen zur Art und Weise, wie der Mensch die Natur dominiert, nach seinen Interessen kontrolliert und auf diese Weise das Ökosystem Erde aus der (beispielsweise klimatischen) Balance bringt.
Der Mensch braucht Wildnis – so viel wie möglich
Darum ist es wichtig, diese bewusste Verbundenheit zu üben, wie jede andere Kunst. Und es braucht das Instrument: Es braucht Wildnis, weil in wilden Räumen die Urform der lebendigen Natur erfahrbar ist, als beseeltes Gegenüber.
«Es lohnt sich, diese bisher unerschlossenen Gebiete zu schützen und zu verteidigen» meint der ehemalige Direktor der WSL und Experte des Europarates für Naturschutz Mario Broggi (in: Surber 2022, S. 112). Und wie? «Ganz einfach. Unsere Zurückhaltung. In gewissen Räumen müssten wir Aktivitäten unterlassen, uns aus anderen komplett zurückziehen. Das wäre gar nicht so schwierig, wir müssten den Menschen einfach zeigen, dass die Wildnis etwas Besonderes und Wichtiges ist, dann würden sie vielleicht vermehrt mitmachen.»
Und dies könnte am effektivsten gelingen durch achtsame Erfahrungsmöglichkeiten in noch vorhandenen wilden Räumen, durch Begegnungen mit der Wildnis, die die Erkenntnis fördern: Ich bin als Mensch zwar herausragend in meiner Bewusstseinskompetenz, doch bin ich gleichwertig als Spezies im Ökosystem Erde.
Quellen
Broggi, M.F. 2015. Wie viel Wildnis für die Schweiz? Ein Diskussionsbeitrag (Essay). Schweiz Z Forstwes 166 (2015) 2: 60–66. Erhältlich: https://mariobroggi.li/wp-content/uploads/2017/01/SZF-166-2015-02_Broggi.pdf (11.07.22)
Broggi, M.F., Hindenlang Clerc K. 2022. Mehr Wildnis – wo und wie? Die Lage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Nationalpark 1/2022. Erhältlich: https://mariobroggi.li/wp-content/uploads/2022/02/NAPA_2022_01_12_17_BROGGI_CLERC.pdf (11.07.22)
Brosch, T. 2021. Affect and emotions as drivers of climate change perception and action: a review. Current Opinion in Behavioral Sciences 2021, 42: 15-21.
Haugen, G.M. 2011. Thomas Berry and the Evocation of Participatory Consciousness. In: Erwin, L., Combs, A. eds. 2011. Thomas Berry, Dreamer of the Earth: The Spiritual Ecology of the Father of Environmentalism. Rochester; Vermont: Inner Traditions. Erhätlich: https://participatorystudies.wordpress.com/2011/04/16/thomas-berry-and-the-evocation-of-participatory-consciousness/ (11.07.22)
Haugen, G.M. 2019. Wild Imagination, Parabola. Erhältlich: https://parabola.org/2019/05/16/wild-imagination-by-geneen-marie-haugen/ (11.07.22)
Moos, S., Radford, S.L., von Atzigen, A., Bauer, N., Senn, J., Kienast, F., Kern, M., Conradin, K. 2019. Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz. Zürich, Bristol-Stiftung; Bern, Haupt 142 S.
Surber, L. 2022. Unwegsam. Über die Chancen einer wilden Schweiz.
Zur Autorin
Zur Autorin
Monika Schaffner (Dr. phil.-nat., Integrative Geografie) engagiert sich für eine wertschätzende Beziehung zwischen Mensch und Natur. Als selbständige Geografin gestaltet und leitet sie Projekte im Gewässer- und Landschaftsschutz. Sie begleitet Menschen auf Auszeiten in die wilde Bergwelt und unterstützt sie darin, ihre Verbindung zur Natur zu vertiefen. Zugleich sollen diese Auszeiten sensibilisieren für den Wert der wilden Bergwelt mit all ihren Qualitäten.
Die nächste Re.connect Naturauszeit findet im Frühherbst 2022 im Tessin statt (mehr Informationen hier).
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