Wie wir uns die Wildnis vorstellen
Die Schweizer Landschaft ist stark zivilisatorisch geprägt. Die Natur wird von uns unterhalten und gepflegt, und wir Menschen bestimmen selbst, welche Flächen ihr zur Verfügung gestellt werden. Kontrovers präsentieren sich unsere Vorstellungen der Wildnis. Sie ist gross, weit und zeichnet sich durch ihre Unberührtheit aus. Wir stellen uns frei fliessende Flüsse oder Bergbäche vor, die neben grossen Urwaldflächen und rauen Bergketten vielen exotischen Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum bieten. Üppige Natur, warmfeuchtes Klima, Sträucher, Lianen, Wölfe und Bären und nicht zuletzt Gefahren wie Lawinen, Murgänge oder Überschwemmungen prägen unsere Bilder der Wildnis (Surber 2022). Für einige mag sie beängstigend, gar bedrohlich wirken, für andere ist die Wildnis ein Sehnsuchtsort voller Abenteuer und Herausforderungen. Es lockt die Lagerfeuer-Romantik, das Gefühl der Freiheit, wenn man auf dem Gipfel des höchsten Berges steht und ein Leben im Einklang mit der Natur.
Die wilde Schweiz
Ein Merkmal, das die Wildnis ausmacht, ist die Abwesenheit des Menschen und somit das Ausbleiben jeglicher Spuren der Zivilisation (Moos et al. 2019). Wo treffen wir auf diese Art von Landschaften in der Schweiz? Im Jura oder im Emmental? Wildromantisch, wie es von der Tourismusindustrie verkauft wird? Die Studie «Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz» hat gezeigt, dass diese Gebiete keine sehr hohe Wildnisqualität aufweisen. Sie wurden über Generationen und werden noch immer von uns genutzt, beweidet, bewirtschaftet und gepflegt. Viel eher findet man Wildnis im Hochgebirge, auf 3000 m ü. M., wo das halbe Jahr Schnee liegt und Flechten pro Sommer nur wenige Zentimeter wachsen. Diese Gebiete sind wenig erschlossen, abgelegen und kaum genutzt. Die Topografie ist steil, das Gelände rau. Und selbst da hat sich mir in den letzten Jahren kaum ein Panorama eröffnet, das nicht durch Seilbahnen, Stromleitungen, Siedlungen oder Alpwirtschaft geprägt ist. Wasserkraftnutzung, Skigebiete und Passstrassen sind allgegenwärtig und prägen unser Landschaftserlebnis.
Kleine wilde Ecken jedoch kann man selbst in der dicht besiedelten Schweiz finden. Es gibt Gewässer, die in bestimmten Abschnitten frei fliessen, Naturschutzgebiete mit Mooren, Dickicht und alten Bäumen und nicht zuletzt den Schweizerischen Nationalpark im Oberengadin, wo wir die Natur Natur sein lassen. Diese Orte wecken die Begeisterung der Bevölkerung und locken jedes Jahr mehr Besuchende in die Natur. Die Faszination und das Interesse sind gross.
Wildnis als Kontrastraum
Kontakt mit der Natur führt nachgewiesen zu Entspannung, Stressreduktion und Wohlbefinden. Laut der Umweltpsychologin Nicole Bauer (Surber 2022) liegt das an den ästhetischen Eigenschaften der Natur. Diese faszinieren uns, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, ohne dass wir uns bewusst darauf konzentrieren müssen. Je stärker dabei der Kontrast zur gewohnten Umgebung ist, desto erholsamer gestalten sich die Aufenthalte in der Natur. Wilde, nicht gestaltete Räume bieten diese Qualität und sind dementsprechend wichtig.
Die Natur bildet eine Anderswelt, einen Kontrastraum, und vermittelt eine gewisse Alltagsferne.
Nicole Bauer (Surber 2022: S. 187)
Die Ästhetik der Wildnis
Die grossen, weiten, unberührten Gebiete haben, wenn wir von ihnen umgeben sind, einen Einfluss auf unser Empfinden. Die Wildnis weist eine andere Umgebungsqualität auf als die vom Menschen beeinflusste Natur. Sie zeigt sich uns in eigenen Formen und Farben, mit wilden Mustern sowie nicht kontrollierbaren und dadurch perfekten Kompositionen. Die Atmosphäre und die Erlebnisräume sind in der Wildnis diverser, vielschichtiger und unvorhergesehener. Blenden wir alle Spuren menschlicher Zivilisation aus, fokussiert sich unser Blick auf das Unberührte. Man lernt die kleinen Ecken zu sehen, erkennt die wichtigen Details. Eine ästhetische Annäherung an die Wildnis gelingt, wenn wir die Trockenblumenwiesen und die alten Bäume wahrnehmen. Hierbei ist auch ein ökologisches Verständnis für die Prozesse wichtig. So erkannte bereits der Philosoph Gernot Böhme (2017: S. 22): «[…] die Ästhetik [tut sich] als ein ganz anderes Feld auf, wenn man sich ihr von der Ökologie her nähert». So kann eine thematische Auseinandersetzung mit Totholz helfen, die Schönheit von umgefallenen Bäumen zu sehen und die Kurven der frei mäandrierenden Flüsse scheinen noch eindrücklicher, wenn wir wissen, wie wichtig Auenlandschaften für Bodenbrüter sind.
Manche Menschen müssen sich immer noch an das Bild von umgestürzten Bäumen im Wald gewöhnen.
Isabelle Roth (Surber 2022: S. 48)
Wir alle brauchen diese Wildnis
Der Schutz von Wildnis lohnt sich für alle Lebewesen auf verschiedenen Ebenen. Wir dürfen lernen, mit dem Kontrollverlust umzugehen und die Natur machen zu lassen. Wir müssen unsere Verantwortung, die wir für die Alpen mittragen, wahrnehmen und uns fragen, was alles auf dem Spiel steht, wenn wir unberührte Hochgebirgswildnis zerstören. Unsere immer häufigeren Besuche der Naturräume beeinflussen das Leben darin. Darauf sollten wir reagieren und mehr sowie grössere Wildnislandschaften zulassen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass auf den verbleibenden freien Flächen der Wildnis Raum gelassen wird. Das bedeutet auch, geplante Skigebietsverbindungen, Hotelanlagen oder die Energiegewinnung auf Kosten der Natur zu überdenken. Viele wilde Gebiete gibt es nicht mehr in der Schweiz, doch immer wieder ergeben sich Möglichkeiten, wilde Ecken im Kleinen zu schaffen, die als Trittsteine zu grösseren Naturflächen funktionieren. Diese Gedanken beginnen bei der Nicht-Gestaltung unserer Gärten und zeigen sich in den Ergebnissen an Abstimmungssonntagen.
Quellen
Böhme, Gernot (2017): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, edition suhrkamp, Berlin.
Moos, Sebastian et al. (2019): Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz, Haupt Verlag, Bern.
Surber, Linda (2022): UNWEGSAM. Über die Chancen einer wilden Schweiz, www.lindasurber.ch/unwegsam.
Weiterführende Videos
Patagonia (2021): Vanishing Lines. Ski resort expansion is destroying our last living glaciers. Zum Video
SRF Impact (2020): Wo es in der Schweiz noch echte Wildnis gibt. Zum Video
Zur Autorin
Linda Surber ist Buchgestalterin, Autorin und Fotografin, hat an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel Visuelle Kommunikation studiert und soeben ihr erstes Sachbuch «UNWEGSAM. Über die Chancen einer wilden Schweiz» veröffentlicht.
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