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Die Schule ist kein gesellschaftlicher Feuerlöscher

Autor: Jakob Kost (PH Bern) | Redaktion: Heinz Nauer & Stella Noack (SAGW)

Das Bildungssystem soll die jungen Menschen von morgen bilden und in ihrem Aufwachsen unterstützen. Die Probleme in der Gesellschaft zu lösen, ist hingegen nicht seine primäre Aufgabe.

Befindet sich das Schweizer Bildungssystem in einer Krise und gibt es eine grundlegende Schieflage, die behoben werden muss? Die mediale Berichterstattung zeichnet seit Jahren ein solches Bild: Pisa-Resultate, Bolognareform, Lehrstellenmangel, Aufnahmeprüfungen, Harmos, Lehrplan21, Lehrpersonenmangel – dies sind nur einige Stichworte der letzten 20 Jahre, an denen sich die jeweiligen Krisenbeschreibungen orientieren. Nicht ganz so polemisch aber mit unverkennbarer Dringlichkeit weist auch Markus Zürcher in seinem im Februar erschienenen Plädoyer «Fördern statt Selektionieren»1 auf Problemfelder der Volksschule hin und fordert ein Umdenken.

Zürcher kritisiert in seinem Plädoyer die frühe Selektion im Bildungssystem und damit verbundene soziale Selektion. Er fordert eine Volksschule, die sich nicht an Jahrgangsklassen, starren Prüfungen und wenig aussagekräftigen Noten orientiert. Vielmehr soll sie die individuellen Potenziale in den Fokus rücken und damit das Humanvermögen der kommenden Generation fördern. Damit verbunden sieht Zürcher die Notwendigkeit, mehr in die Volksschule zu investieren und das Bildungsverständnis der Volksschule zu reformieren.

Das gebrochene Versprechen der Meritokratie

Der Bildungserfolg hängt in der Schweiz stark vom sozioökonomischen Status der Eltern ab.2 Das meritkokratische Versprechen, also die Vorstellung, dass prestigeträchtige Bildungsabschlüsse ausschliesslich durch hohe Leistung erlangt werden, wird immer wieder gebrochen. Die bildungssoziologische Forschung verdeutlicht seit vielen Jahren, wie und an welchen Stellen im Bildungssystem soziale, geschlechtsspezifische und auch migrationsbedingte Disparitäten entstehen und betont die Bedeutsamkeit von Übertritten zwischen Schulstufen. Bisherige Eingriffe und Reformen haben diese Problematik nicht entschärfen können. Dazu gehört auch die viel beschworene Durchlässigkeit des Bildungssystems. Zwar wurde die strukturelle Durchlässigkeit des Systems durch die Einführung der Berufsmaturität, der Fachhochschulen und der Passarellenprüfungen erhöht: Sie werden aber nach wie vor in hohem Masse sozial selektiv genutzt.3

Der Befähigungsansatz: eine alternative ökonomische Lesart

Die Deutungshoheit der Bildungsökonomie zeigt sich in unterschiedlichen Facetten: In den von Zürcher benannten neoliberalen Steuerungsideen des New Public Management, in der Vulgarisierung eines präskriptiven Verständnisses der Humankapitaltheorie in der Bildungspolitik und -administration bis hin zur Strukturierung des Schweizer Bildungsberichts entlang ökonomischer Dimensionen.4 Eine alternative ökonomische Lesart der Rolle der Bildung in der Schweizer Gesellschaft wäre der Befähigungsansatz (Capability Approach).5 Dieses unter anderem vom Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen entwickelte Konzept erlaubt es, die Rolle von Bildung in Gemeinschaften viel stärker aus der Perspektive der Trägerinnen und Träger von Bildung und ihrer Handlungsoptionen und Hürden zu beleuchten. Gleichzeitig reduziert es Bildung nicht auf entpersonalisierte Skills.

Vor- und Nachteile eines Berechtigungssystems, das auf Diplomen basiert

Das in der Schweiz vorherrschende Prinzip von berechtigenden Bildungsabschlüssen (für weiterführende Bildungswege oder Erwerbstätigkeiten) basiert auf ständischen Strukturen. Dies kritisiert Zürcher zu Recht. Personen mit beziehungsweise ohne ein spezifisches Diplom werden dadurch für einen bestimmten Wirtschafts- oder Bildungsbereich zugelassen oder ausgeschlossen. Solche Strukturen sind in sogenannten «koordinierten Marktwirtschaften» wie der Schweiz weit verbreitet. Bildungsabschlüsse, ihre spezifischen Inhalte und Berechtigungen, werden in sozialpartnerschaftlichen Prozessen ausgehandelt und festgelegt. Dies hat den Vorteil, dass die Diplome und Abschlüsse effektiv einen «Wert» haben und dieser von den Akteuren (Bildungsinstitutionen oder Arbeitgebern) anerkannt wird.

Eine Alternative dazu findet sich zum Beispiel in «liberalen Marktwirtschaften» wie den USA, Kanada oder Australien. Hier setzen Arbeitsmarkt oder Bildungsinstitutionen zwar weniger auf Abschlüsse und Diplome als Selektionsmittel – Diplome sind also weniger mit Berechtigungen verbunden –, gleichzeitig führt der Bildungsliberalismus aber zu undurchsichtigen Strukturen für alle Beteiligten.

Volksschule vs. Leistungsschule

Immer mal wieder wird die Strukturierung der Schule in Jahrgangsklassen kritisiert. Auch Markus Zürcher tut dies. Er erhofft sich von einer Strukturierung nach Leistung und Interessen eine stärkere Orientierung an den individuellen Potenzialen. Die Heterogenität in der Volksschule in Bezug auf Interessen, Leistungsfähigkeit und familiäre Herkunft hat aber auch einen grossen Vorteil. Sie ist die gesellschaftliche Institution, in der sich «das Volk» in seiner ganzen Heterogenität begegnet und miteinander und voneinander lernt. Die Bedeutsamkeit dieses Effekts für die soziale Kohäsion kann kaum überschätzt werden.

Fazit: Das Bildungssystem kann nicht die Probleme der Gesellschaft lösen

Die Baustellen im Schweizer Bildungssystems sind zahlreich, wie die Baustellen in der Gesellschaft insgesamt – ob eine Krise besteht, scheint dagegen fraglich. Das Bildungssystem mag ein Ort sein, an dem sich viele Herausforderungen der Gesellschaft manifestieren. Das Bildungssystem kann aber nicht die Probleme der Gesellschaft lösen: Es soll in erster Linie die jungen Menschen von morgen bilden und in ihrem Aufwachsen unterstützen. Wie dies geschehen soll und was es dazu braucht, muss gesellschaftlich ausgehandelt werden – Markus Zürchers Plädoyer verstehe ich entsprechend als interessante Einladung zur Diskussion.

Referenzen

[1] Zürcher, Markus (2023): Fördern statt selektionieren. Plädoyer für eine Volksschule, die das Begabungspotenzial der Kinder und Jugendlichen ausschöpft (Swiss Academies Communications 18,1). https://doi.org/10.5281/zenodo.7551627

[2] Becker, Rolf (2013): Bildungsungleichheit und Gerechtigkeit in der Schweiz (Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 35,3).

[3] Kost, Jakob (2018): Erreichte und verpasste Anschlüsse – Zur Durchlässigkeit der Schweizer Sekundarstufe II, Bielefeld.

Glauser, David (2015): Berufsausbildung oder Allgemeinbildung. Soziale Ungleichheiten beim Übergang in die Sekundarstufe II in der Schweiz, Wiesbaden.

[4] Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (2023): Bildungsbericht Schweiz 2023, Aarau.

[5] Robeyns, Ingrid (2017): Wellbeing, Freedom and Social Justice: The Capability Approach Re-Examined, Cambridge. https://doi.org/10.11647/OBP.0130

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Zum Autor

Jakob Kost ist Erziehungswissenschaftler und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern. Derzeit ist er Visiting Scholar am «Ontario Institute for Studies in Education» an der Universität Toronto.

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