Tagungsbericht
Beatrice Kübli / Regula Julia Leemann
Im Sommer ist es wieder soweit: Tausende von Jugendlichen beenden die obligatorische Schulzeit und beginnen die berufliche Laufbahn. Die meisten werden eine Lehre oder eine weiterführende Schule antreten. Irgendwann werden sie vielleicht ein Studium aufnehmen. Die «Übergänge von der Sekundar- zur Tertiärstufe» waren am 23. Mai 2019 Thema einer Tagung in Fribourg.
Das Bildungssystem soll auf den Arbeitsmarkt aufgerichtet sein. So sieht es zumindest Josef Widmer von Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Die Schweiz kann aber den Bedarf an Fachkräften nicht aus den eigenen Reihen decken. Sie ist auf Einwanderung angewiesen. Versagt hier das Bildungssystem, fehlt es uns an begabtem Nachwuchs oder fehlen die Anreize für eine Tertiärausbildung?
Bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt
Ein Tertiärabschluss zahlt sich aus, wie die TREE-Studie (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) zeigt. Studierte haben einen ausgeprägten Lohnvorteil und auch die besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Früher war die Arbeitslosenquote noch unabhängig vom Bildungsstand, bestätigt George Sheldon von der Forschungsstelle Arbeitsmarkt und Industrieökonomie, aber inzwischen nimmt die Nachfrage nach Hochqualifizierten in allen Industrienationen zu. Repetitive Arbeiten werden ins Ausland verlagert oder automatisiert. Allerdings werden nicht alle Fachrichtungen gleichermassen nachgefragt. Es fehle vor allem an MINT-Berufen. Würden die Jugendlichen also nach ökonomischen Kriterien entscheiden, hätten die Ingenieure dieses Jahr grossen Zulauf. Aber der Berufsentscheid verläuft nicht so rational, gibt Sarah Forster-Heinzer, Erziehungswissenschaftlerin der Universität Zürich zu bedenken. Er hängt vom individuellen Talent und Interesse ab, aber auch von familiären und institutionellen Einflüssen, von Rollenbildern und Lebensereignissen. Hier gibt es einen Bedarf an Forschung, die qualitative Ansätze erfordert.
Soziale Selektion
Daniel Oesch, Soziologieprofessor an der Universität Lausanne, bezweifelt, dass es in der Schweiz an Talenten mangelt, und identifiziert ein «soziales Nadelöhr». Ob ein Kind einen Hochschulabschluss (Uni/FH) macht oder nicht, hängt nämlich entscheidend vom sozialen Status der Eltern ab. Dieser Effekt zeigt sich auch, wenn die verglichenen Jugendlichen im PISA-Test dieselbe Punktzahl erzielten. Oesch erklärt das unter anderem damit, dass Eltern mit hohem sozialem Status ihren Sprösslingen Nachhilfestunden und Vorbereitungskurse finanzierten, und dass die gymnasiale Maturaquote künstlich auf rund 20% beschränkt sei. Dass tatsächlich nur 20% über das intellektuelle Potenzial für diesen Weg verfügen, hält er für Unsinn. Er geht eher davon aus, dass sich die Berufsbildung auf diesem Weg einen Anteil an Begabten sichert. Für Josef Widmer (SBFI) ist eben diese Aufteilung wichtig. Die Berufsbildung müsse für starke Schülerinnen und Schüler attraktiv bleiben und dürfe nicht zweite Wahl sein. Nur so könne sie dem Anspruch genügen, möglichst viele Jugendliche zu integrieren. Christian Imdorf, Professor für Bildungssoziologie an der Leibniz Universität Hannover, bestätigt, dass die Berufsbildung integrativer sei als die akademische Bildung, gibt aber zu bedenken, dass die Berufsbildung auch am meisten Geschlechtertrennung produziere. Wie so oft bei politischen Entscheiden gilt es auch hier zwischen zwei gegenläufigen Zielen abzuwiegen.
Berufsmatur als Alternative
Mit der Einführung der Berufsmatur bietet die Lehre nun seit 1980 auch einen Hochschulzugang und ist eine gute Alternative zum Gymnasium. Aber längst nicht alle Berufsmaturanden gehen nach dem Lehrabschluss an eine Hochschule. Zumindest nicht gleich, bestätigt Jacques Babel vom Bundesamt für Statistik. 2-3 Jahre nach Abschluss steigt das Interesse an weiterbildenden Studien aber wieder an. Ein Grund für diesen verzögerten Einstieg ins Studium ist für Rami Mouad vom «Service de la recherche en éducation» (SRED), dass Personen mit Berufsmatur auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt seien. Thomas Meyer (TREE-Studie) sieht denn auch bei der Berufsmatur das grösste Potenzial für neue Fachkräfte, zumal politisch kaum ein Wille erkennbar sei, die gymnasiale Maturaquote zu erhöhen.
Bildungsinstitutionelle Faktoren
Christian Imdorf, Professor für Bildungssoziologie an der Leibniz Universität Hannover, verweist darauf, dass die Verberuflichung des gymnasialen Wegs in Frankreich eine erfolgreichere Strategie ist als die Akademisierung der Berufsbildung in der Schweiz, um sozial Benachteiligten den Hochschulzugang zu erleichtern. Dennoch ist die Berufsmaturität wichtig, um soziale Durchlässigkeit zu den Fachhochschulen zu ermöglichen. Insbesondere der Weg über die Berufsmaturität 1 muss gefördert werden, so die These von Regula Julia Leemann, Professorin für Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. Ihre Untersuchung macht auf die Wichtigkeit der Lehr-/Lernkultur der Bildungswege aufmerksam, die miterklären kann, weshalb eher wenige Abgänger einer beruflichen Grundbildung den Weg an die Fachhochschulen über eine Berufsmaturität 2 anstreben. Der Beitrag von Irene Kriesi, Professorin am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung, zeigt im Weiteren auf, dass die Übertrittswahrscheinlichkeit in die Tertiärstufe auch von Merkmalen des Ausbildungsberufs (z.B. Umfang des schulischen Ausbildungsanteils) und des Ausbildungsbetriebs abhängt.
Horizontale Bildungswege
Es braucht also mehr Fachkräfte und die Tertiärausbildung zahlt sich aus. Welche Chance haben aber jene, die keine Matur haben? Wie durchlässig ist unser Bildungssystem in solchen Fällen? In der Podiumsdiskussion wird die Durchlässigkeit angezweifelt. Wer in seiner Lehre drei Jahre lang keine Fremdsprache mehr lernen musste, kann zwar die Berufsmatur nachholen, wird sich das aber wegen der sprachlichen Lücke kaum trauen. Und wer erst mal 10-20 Jahre im Berufsleben stand, kann zwar noch studieren, wird aber kaum bereit sein, nochmals von vorne zu beginnen. Eine Möglichkeit wäre, Berufserfahrungen an ein Studium anzurechnen. Oder ein «Abitur light», wo beispielsweise nicht drei Fremdsprachen gefordert werden. Zwar gibt es Wege für die laterale Durchlässigkeit, sie werden aber wenig genutzt, bestätigt Josef Widmer. Das System müsste hier attraktiver ausgestaltet werden.
Undurchsichtige Strukturen
Das Bildungssystem bietet also viele Wege und einige Zwischenpfade, ist aber entsprechend komplex und schwierig zu verstehen. Zudem gibt es unsichtbare Mechanismen und undurchsichtige Selektionskriterien, kritisiert Isabelle Mili, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung. Auch Katharina Maag Merki, Professorin für Theorie und Empirie schulischer Bildungsprozesse der Universität Zürich, stellt fest, dass die Bildungswege zwar scheinbar gleichwertig seien, aber unterschiedliches Ansehen geniessen. Auch innerhalb der Berufe gebe es Unterschiede, bisweilen sogar noch grössere als zwischen den Berufen. Wie sollen sich die Jugendlichen hier noch orientieren können?
Individuelle Wege
Am besten ist vielleicht doch, sich an seinen Interessen und Fähigkeiten auszurichten – und an der Struktur des Studiums, wie der Studienberater Markus Diem empfiehlt. Weil: Wer nicht gerne auswendig lernt, sollte besser nicht Medizin studieren, und wer nicht gerne selbständig arbeitet, ist bei den Geisteswissenschaften falsch. Bei vielen universitären Studiengängen ist sowieso unklar, wie sie sich im Arbeitsmarkt auszahlen werden. Auf die Frage, was man denn mit einem geisteswissenschaftlichen Studium später arbeiten soll, antwortet Diem: «Sie werden schon etwas werden, aber Sie wissen es erst, wenn Sie es sind.» Isabelle Mili warnt gar davor, nach den Wünschen des Arbeitsmarktes zu handeln. Schliesslich sei heute schwer vorherzusagen, was man in einigen Jahren brauchen werde.