Herr Seifert, was verstehen Sie unter intergenerationellem Zusammenhalt?
Wir alle repräsentieren unterschiedliche Geburtsjahre, sind in anderen Zeiten sozialisiert worden und befinden uns daher in unterschiedlichen Generationen. Heute 20-Jährige gehören damit in eine andere Generation als heute 60-Jährige – und somit befinden sie sich in unterschiedlichen Lebensabschnitten. Dennoch haben beide Generationen viel Kontakt, zum Beispiel durch die Familie, bei der Arbeit, im öffentlichen städtischen Raum oder in der Freizeit. Dieser Kontakt prägt auch das gegenseitige Bild der jeweils anderen Generation. Gibt es einen regen Kontakt, gegebenenfalls gegenseitige Unterstützung und damit auch positive Bilder des Gegenübers, können wir von einem intergenerationellen Zusammenhalt sprechen. Dieser Zusammenhalt zeigt sich unter anderem dadurch, dass wir auf die anderen Generationen Rücksicht nehmen, was sich zum Beispiel während der Pandemie gezeigt hat.
Gibt es einen regen Kontakt, gegebenenfalls gegenseitige Unterstützung und damit auch positive Bilder des Gegenübers, können wir von einem intergenerationellen Zusammenhalt sprechen.
Die interindividuellen Eigenschaften innerhalb einer Alterskohorte vergrössern sich im Verlauf des Lebens: Ein 60-jähriger Lehrer hat mit seinem 30-jährigen Berufskollegen vielleicht mehr gemeinsam als mit einem gleichaltrigen Sanitär oder Kellner. Ist es soziologisch sinnvoll, die Gesellschaft in Generationen einzuteilen und zu analysieren?
Sicherlich gibt es neben Gemeinsamkeiten einer Generation auch andere Rollenkontexte, in denen eine Person agiert und daher sollten individuelle Lebensstile innerhalb einer Alterskohorte auch berücksichtigt werden. Die aktuelle Pandemie hat hier zum Beispiel gezeigt, dass Einstellungen gegenüber den pandemiebedingten Schutzmassnahmen nicht nur zwischen verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich sein können, sondern auch intergenerationell unterschiedlich ausfallen können.
Ihr Forschungsprojekt «Intergenerational cohesion during Covid-19 and beyond» wird als eines von 25 Projekten im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Covid-19 in der Gesellschaft» gefördert. Welche Fragen möchten Sie damit beantworten?
Wir untersuchen, inwieweit die Kontakte zwischen den Generationen, zum Beispiel durch kreative Lösungen wie digitale Kontakte oder Fensterbesuche, auch während der Pandemie aufrechterhalten wurden. Neben den Kontakten wollen wir auch die neu initiierten Hilfen und Unterstützungen zwischen den Generationen in den Blick nehmen. Dabei soll aber auch berücksichtigt werden, dass die Pandemie teils auch zu negativen Altersbildern führte und den intergenerationellen Zusammenhalt strapazierte.
Kontakte, Unterstützungen und Konflikte zwischen den Generationen gab es bereits vor der Pandemie und wird es auch danach noch geben; die Pandemie hat aber Dynamik in den intergenerationellen Zusammenhalt gebracht und – neben allen Konflikten – auch kreative Lösungen zur Kontaktaufrechterhaltung und neue Unterstützungsangebote angeregt. Diese Dynamiken gilt es zu untersuchen und zu nutzen, um Empfehlungen für eine «Pflege des Zusammenhalts» zu formulieren – nicht zuletzt auch hinsichtlich künftiger Pandemien oder Krisen.
Unterstützungen und Konflikte zwischen den Generationen gab es bereits vor der Pandemie und wird es auch danach noch geben; die Pandemie hat aber Dynamik in den intergenerationellen Zusammenhalt gebracht.
Wie gehen Sie methodisch vor, um diese Fragen zu beantworten?
Um die entscheidenden Faktoren für einen erfüllenden Kontakt zwischen den Generationen in der Pandemiekrisenzeit zu identifizieren, wenden wir im Projekt sowohl qualitative wie quantitative Methoden an, konkret Interviews mit Vertreter·innen unterschiedlicher Generationen und Expert·innen aus dem professionellen Setting der Alters- und Quartierarbeit, respektive Sekundaranalysen bestehender Daten und eine eigene Bevölkerungsbefragung bei Personen ab 18 Jahren. Wir versuchen auch auf bestehende Daten zurückzugreifen, damit wir Vergleiche mit der Zeit vor der Pandemie ziehen und so sozialpolitische Empfehlungen für die Zukunft bieten können.
Transdisziplinäre Forschung, welche die Expertise von Praktiker·innen einbezieht, wird immer wichtiger. Welche Rolle spielen partizipative Ansätze in Ihrem Projekt?
Es ist vorgesehen, mit vier nationalen Praxisorganisationen – zwei NGOs, eine kirchliche und eine humanitäre Organisation – zusammenzuarbeiten. Dieser partizipative Einbezug ermöglicht es, die wissenschaftliche mit der praktischen Expertise – frühzeitig und fortlaufend im Projekt – zu kombinieren.
Sie haben vorhin Empfehlungen für eine «Pflege des Zusammenhalts» genannt. An wen richten sie sich?
Im Forschungsprojekt wollen wir zunächst evidenzbasierte Ergebnisse produzieren; mit den Empfehlungen wollen wir darüber hinaus aber auch die breite Öffentlichkeit und die politischen Stakeholder darüber informieren, wie der intergenerationelle Zusammenhalt auch in Zukunft – angesichts weiterer Pandemien und Krisen – aufrechterhalten werden kann.
Stichwort «Science for Policy»: Weshalb sollten sich politische Entscheidungsträger für Ihre Forschung interessieren?
Den intergenerationellen Zusammenhalt zu messen, zu beschreiben und zu analysieren ist gerade für politische Entscheidungsträger wichtig.
Der intergenerationelle Zusammenhalt ist ein Gradmesser für den generellen sozialen Zusammenhalt in einem Land. Jede stärkere Belastung des Zusammenhalts der Generationen – sei es zum Beispiel durch die offene Frage der Rentenfinanzierung oder unterschiedliche Handlungsvorstellungen im Rahmen der weltweiten Klimakrise – führt zu einer Verschlechterung des generellen sozialen Zusammenlebens in der Schweiz. Den intergenerationellen Zusammenhalt – gerade in einer ausserordentlichen Situation wie einer Pandemie – zu messen, zu beschreiben und zu analysieren ist deshalb gerade für politische Entscheidungsträger wichtig.
Hintergrund
Das Forschungsprojekt «Intergenerational cohesion during Covid-19 and beyond» untersucht die Kontakte zwischen den Generationen während der Pandemie, vor allem zwischen älteren Menschen über 65 Jahren und jüngeren Menschen. Welche Effekte die Pandemie auf den generationellen Zusammenhalt hatte, will das Projekt in Zusammenarbeit mit vier Praxisorganisationen aus der Schweiz klären. Das Projekt wird im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 80 «Covid-19 in der Gesellschaft» von 2023–2025 mit 465 464 Franken unterstützt. Es wird geleitet von Alexander Seifert (Fachhochschule Nordwestschweiz) und Karen Torben-Nielsen (Berner Fachhochschule).