Thema der Podiumsdiskussion
Die Alterung der Bevölkerung stellt die Gesundheitsversorgung vor grosse Herausforderungen, denn physische Alterungsprozesse gehen oft mit komplexen Krankheitsbildern und Multimorbidität einher. Das Gesundheitssystem braucht daher eine Grundversorgung, die sich an den Bedürfnissen älterer Menschen orientiert und über die Behandlung von einzelnen Symptomen hinausgeht. Das Konzept der funktionalen Lebensqualität und die Perspektive der Medical Humanities bieten Grundlagen für eine Reflexion über die Frage, wie eine Gesundheitsversorgung altersfreundlich gestaltet werden kann:
- Das Konzept der funktionalen Lebensqualität stellt den Menschen und seine Möglichkeiten ins Zentrum. Das Leben soll auch im Alter oder bei Einschränkungen nach eigenen Vorstellungen und Zielen gestaltet werden können.
- Die Medical Humanities verstehen die Medizin auch als Sozial- und Verhaltenswissenschaft und fördern einen vieldeutigen Blick auf Gesundheit und Krankheit.
Die Veranstaltung stellt fünf Fragen ins Zentrum:
- Was gehört aus ethischer Sicht zu einer altersfreundlichen Grundversorgung?
- Wie hat sich die gesundheitliche Grundversorgung für Senior·innen in der Schweiz soziahistorisch entwickelt?
- Wo stehen die medizinische Grundversorgung und die Langzeitpflege in der Schweiz?
- Welche Grundversorgungsmodelle gibt es in den Schweizer Kantonen, Gemeinden und Städten?
- Wie wird die altersfreundliche gesundheitliche Grundversorgung in der Perspektive des Designs wahrgenommen?
Format
Expert·innen-Inputs als Grundlage
Im Vorfeld der Diskussion haben fünf Expertinnen und Experten zu den Diskussionsfragen einen Input gemacht, in Textform und als Video (zu finden weiter unten auf dieser Seite). Ihre Inputs bilden die Grundlage der Diskussion am 27. Oktober.
Zielpublikum
Fachleute der medizinischen und pflegerischen Praxis, Forscher·innen im Bereich Alter(n) und im dem Bereich Medical Humanities sowie weitere interessierte Kreise aus dem Gesundheits- und Sozialbereich.
Sprachen
Deutsch und Französisch, keine Simultanübersetzung
Zur Reihe «Alt werden»
Die Tagung «Hin zu einer altersfreundlichen Gesundheitsversorgung» ist die zweite Veranstaltung in der Medical-Humanities-Reihe «Alt werden». Bis 2024 sind zwei weitere Veranstaltungen geplant. Die Reihe ist eine Kooperation der SAGW mit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften.
Programmkomitee
Nikola Biller-Andorno, Universität Zürich & Mitglied des SAMW-Vorstands; Iren Bischofberger, Universität Wien; Anna Elsner, Universität St. Gallen; Francesco Panese, Universität Lausanne; Martina King, Universität Freiburg; Delphine Roulet Schwab, Haute École de la Santé La Source; Hubert Steinke, Universität Bern; Piet van Spijk, Medicum Wesemlin; Markus Zürcher, Generalsekretär der SAGW; Romaine Farquet, wissenschaftliche Mitarbeiterin der SAGW; Valérie Clerc, Generalsekretärin der SAMW.
Anmeldung
Melden Sie sich bis am 25. Oktober an, um den Link zum Live-Stream am Tag vor der Prodiumsdiskussion (26. Oktober) per E-Mail zu erhalten (Frist abgelaufen).
Der Link zum Live-Stream zudem an dieser Stelle publiziert. Eine Anmeldung ist für die Teilnahme (kostenlos, nur online möglich) nicht zwingend.
Podiumsgäste
Das Podium wird von Dr. Christof Schmitz (college M) moderiert. Es diskutieren:
Joachim Küchenhoff
Joachim Küchenhoff ist promovierter Humanmediziner, Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Psychoanalytiker. Er ist emeritierter Professor der Universität Basel und aktuell Gastprofessor der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Bis Juli 2018 war Joachim Küchenhoff Direktor der Erwachsenenpsychiatrie Basel-Land und arbeitet seither in freier Praxis in Binningen bei Basel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Behandlung schwerer seelischer Störungen, Möglichkeiten und Grenzen psychischer Repräsentation, Körpererleben und Psychosomatik sowie interdisziplinäre Forschung in Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaften, Philosophie und Psychoanalyse.
Flurina Meier
Flurina Meier Schwarzer ist stellvertretende Leiterin der Fachstelle Versorgungsforschung am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie der ZHAW. Sie betreibt Gesundheits-Systemforschung mit Fokus auf die Langzeitpflege und -betreuung sowie Pflegefinanzierung. Dies umfasst insbesondere Analysen von Versorgung und Anreizsystemen in der Altersversorgung, ökonomische Evaluationen neuer Versorgungsformen sowie die Synthese von Wissen mittels Systematic Reviews und Meta-Analysen.
Annamaria Müller
Nach Abschluss ihres VWL-Studiums an der Universität Bern arbeitete Annamaria Müller zuerst bei der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) und anschliessend als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich. Später wechselte sie als Bereichsleiterin Gesundheitsökonomie und Gesundheitsinformation zurück zur GDK nach Bern, wo sie 2000 stellvertretende Zentralsekretärin wurde. Anschliessend war sie von 2002 bis 2007 Generalsekretärin der FMH und von 2009 bis 2019 Vorsteherin des Spitalamts der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern. Seit 2020 ist sie mit ihrer Firma Amidea GmbH – New Health Care Solutions freischaffend tätig. Sie übt verschiedene Aufsichtsratsmandate aus, insbesondere das Verwaltungsratspräsidium der Freiburger Spitäler, HFR. Zudem ist sie Präsidentin des Schweizer Forums für Integrierte Versorgung, fmc.
Sandrine Pihet
Sandrine Pihet ist seit 2013 Professorin an der Hochschule für Gesundheit Freiburg und leitet dort den Forschungsbereich «Altern». Ihre anwendungsorientierten Forschungsprojekte haben zum Ziel, die Gesundheit von pflegenden Angehörigen insbesondere im Bereich der Demenz zu fördern sowie die Betreuung vulnerabler älterer Menschen zu verbessern. Ihre Fachgebiete sind die Entwicklung und Evaluation von psychoedukativen Interventionen, die Validierung von Fragebögen sowie intensive Längsschnittstudien. Seit 2018 präsidiert Sandrine Pihet zudem den Verein Pflegende Angehörige Freiburg, der jedes Jahr den interkantonalen Tag der unterstützenden Angehörigen organisiert und in einem partizipativen Prozess den telefonischen Bereitschaftsdienst «An·gehör·ige» aufgebaut hat.
Delphine Roulet Schwab
Delphine Roulet Schwab ist ordentliche Professorin am Laboratorium für die Lehre und Forschung zu Altern und Gesundheit (LER VISA) am Institut und der Hochschule für Gesundheit «La Source» in Lausanne. Die promovierte Psychologin mit Spezialisierung Gerontologie forscht unter anderem zu Misshandlung und Wohlbehandlung von älteren Menschen, zu Gewalt bei älteren Paaren, zu Altersdiskriminierung sowie zu den Rechten älterer Menschen. Delphine Roulet Schwab präsidiert Gerontologie CH und den Verein Alter Ego.
Berta Truttmann
Berta Truttmann ist seit bald 30 Jahren Ärztin mit FMH Innere Medizin, Schwerpunkt Geriatrie. Seit April 2021 ist sie Standortleiterin und stellvertretende Chefärztin an der Universitären Klinik für Altersmedizin des Stadtspitals Zürich Standort Waid. Zuvor war sie während fast sieben Jahren als Stellvertretende Chefärztin an der Geriatrischen Klinik in St. Gallen tätig. Ihre Ausbildung zur Geriaterin machte sie im Stadtspital Zürich. Ihr geriatrischer Schwerpunkt ist die klinische Geriatrie. Während ihrer mehr als 19 Jahre Tätigkeit in geriatrischen A-Kliniken in St. Gallen lernte sie das biopsychosoziale Konzept in der Geriatrie kennen und schätzen.
Expert·innen-Inputs
1. Ethische Perspektive: Was beinhaltet der Begriff altersfreundliche Gesundheitsgrundversorgung?
Prof. Dr. med. Ralf Jox, Universität Lausanne
Textbeitrag
Aus ethischer Sicht stellen sich punkto altersfreundlicher Gesundheitsversorgung zwei grundlegende Fragen: 1. Soll es überhaupt eine solche Gesundheitsversorgung geben? 2. Nach welchen Kriterien ist eine Gesundheitsversorgung als altersfreundlich zu bewerten? Um beide Fragen zu beantworten, muss man die vier ethischen Zielkriterien in den Blick nehmen, die für jede Gesundheitsversorgung gelten: Bedarfsorientierung, Personenzentriertheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Bei genauer Betrachtung zeigt sich dann, dass jede gute Gesundheitsversorgung zugleich auch eine altersfreundliche Gesundheitsversorgung sein muss. Wie viel hier im Argen liegt, zeigt sich in der alltäglichen Wirklichkeit im Gesundheitssystem.
Über Ralf Jox
Ralf J. Jox studierte Medizin und Philosophie in Freiburg, München, Boston und London. Er ist Professor für Medizinethik und für Geriatrische Palliative Care an der Universität Lausanne, verantwortet am «Centre hospitalier universitaire vaudois» die Einheit für Klinische Ethik und leitet an selber Stelle das Institut für Humanities in der Medizin (ab August 2022). Ralf Jox ist Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin und Vizepräsident von «Advance Care Planning – ACP Swiss». Sein Forschungsschwerpunkt ist die medizinische Entscheidungsfindung bei vulnerablen Patientengruppen.
2. Perspective historique : comment la prise en charge des aînés en matière de santé a-t-elle évolué en Suisse ?
Prof. Dr. Vincent Barras, Universität Lausanne
Über Vincent Barras
Vincent Barras ist Arzt, Philosoph und Dichter. Er ist Spezialist für die Geschichte der Medizin, Professor und Direktor am Institut des humanités en médecine UNIL-CHUV (IHM). Seine Forschung konzentriert sich auf die Geschichte und Philosophie der Medizin, die als ein komplexes wissenschaftliches, kulturelles und soziales System betrachtet wird. Sein besonderes Interesse gilt den Bereichen der antiken Medizin und Philosophie, der Psychiatrie und den Neurowissenschaften vom 18. bis zum 21. Jahrhundert sowie der Geschichte des Körpers und der klinischen Untersuchungstechnologien.
3. Soins médicaux de base et de longue durée en Suisse : état des lieux et défis
Dr. Sonia Pellegrini, OBSAN
Textbeitrag
Die Alterung der Bevölkerung wird sich in der Schweiz stark beschleunigen. Nach dem mittleren demografischen Szenario wird sich die Zahl der über 80-Jährigen bis 2040 fast verdoppeln. Bei einer unveränderten Betreuung der Senior·innen wird der Bedarf an Einrichtungen für die Langzeitpflege dann etwa eineinhalb Mal so hoch sein wie heute. Um zu verhindern, dass immer mehr Pflegeheime gebaut werden müssen, werden Alternativen diskutiert, wie die Menschen mit dem geringsten Pflegebedarf anderswo betreut werden können. Ein solches Szenario der Betreuung ausserhalb von Pflegeheimen hat zwar Potenzial, ist aber auch mit grossen Herausforderungen verbunden, da die alternativen Strukturen (häusliche Pflege, betreutes Wohnen etc.) erheblich ausgebaut werden müssten, was insbesondere angesichts des Mangels an Pflegepersonal ein schwieriges Unterfangen ist.
Über Sonia Pellegrini
Sonia Pellegrini ist stellvertretende Direktorin und Bereichsleiterin beim Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan). Sie ist promovierte Gesundheitsökonomin (Universität Neuenburg) und hat als Expertin des Schweizer Gesundheitssystem zahlreiche Analysen zu den aktuellen Entwicklungen in der Langzeitpflege von älteren Menschen sowie zu verschiedenen Organisationsmodellen in der Schweiz veröffentlicht. Bevor sie 2011 zum Obsan wechselte, war sie als Ökonomin beim Bundesamt für Umwelt und als wissenschaftliche Projektleiterin an der Berner Fachhochschule tätig.
4. INTERCARE und INSPIRE: innovative Grundversorgungsmodelle für SeniorInnen
Prof. Dr. med. Andreas Zeller, Universität Basel
Textbeitrag
In der Schweiz steigt die Lebenserwartung. Somit wird auch der Anteil von älteren Menschen mit Unterstützungsbedarf grösser. Ältere Menschen brauchen oft eine Kombination von Dienstleistungen, zentral ist hier eine koordinierte Beratung und Versorgung, zum Beispiel in Informations- und Beratungsstellen in enger Zusammenarbeit mit Hausärztinnen und Hausärzten, bei denen die Fäden zusammenlaufen. Ein interprofessionelles Team der Universität Basel konnte in zwei Forschungsprojekten zeigen, dass durch eine Kombination von relativ einfachen Massnahmen in Alters- und Pflegeheimen unnötige Hospitalisationen vermieden und dadurch auch Kosten gespart werden können.
Über Andreas Zeller
Andreas Zeller studierte Medizin an der Universität Basel und absolvierte seine klinische Ausbildung zum Facharzt für Allgemeine Innere Medizin an verschiedenen Spitälern in der Schweiz. Im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in England an der «Academic Unit of Primary Health Care» an der Universität Bristol beschäftigte er sich mit dem Thema der «Medication Adherence» (das Einhalten von Medikationen) bei chronischen Erkrankungen. Seit September 2014 leitet er das Universitäre Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel an der Universität Basel und arbeitet in einem 50-Prozent-Pensum als Hausarzt.
Im Kanton Basel-Landschaft zum Beispiel ist bereits heute jede fünfte Person über 65 Jahre alt. Bis ins Jahr 2045 ist mit einer Verdopplung der Personen über 80 Jahre zu rechnen. Dieser allgemeine Trend lässt sich für die ganze Schweiz voraussagen. Diese Entwicklungen sind für die Medizin und die Politik sehr herausfordernd.
Andreas Zeller, Facharzt
5. Wie kann Design zu einer altersfreundlicheren Gesundheitsgrundversorgung beitragen?
Prof. Dr. Minou Afzali, Swiss Center for Design and Health
Textbeitrag
In den letzten Jahren hat das Interesse an gestalterischen Aspekten im Gesundheitskontext zugenommen. Dies zeigt sich unter anderem in einem zunehmenden Bewusstsein der Gesundheitsinstitutionen für die Relevanz von Design und Architektur. In der Pandemie wurde dies besonders sichtbar – gerade in Bezug auf ältere Menschen. Bei der Gestaltung von Kommunikationsmitteln, Produkten, räumlichen Umgebungen und Angeboten für die Gesundheitsversorgung älterer Menschen ist Folgendes wichtig: die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse (evidenzbasiertes Design) und der frühzeitige Einbezug relevanter Ansprechgruppen in den Designprozess. Dabei gilt es zu beachten, dass die primäre Ansprechgruppe, nämlich ältere Menschen, nicht weniger heterogen ist als die übrige Bevölkerung.
Über Minou Afzali
Minou Afzali ist Forschungsleiterin am «Swiss Center for Design and Health», Professorin für Social Design am «Institute of Design Research» der Hochschule der Künste Bern und koordiniert koordiniert die interdisziplinäre Arbeitsgruppe «Health Care Communication Design» der Berner Fachhochschule. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Health Care Design und Social Design. Ihre Dissertation schrieb sie «Zur Rolle des Designs in kulturspezifischen Alters- und Pflegeeinrichtungen».
So kann Design beispielsweise dazu beitragen, wichtige Informationen auf dem Beipackzettel eines Medikaments verständlich zu vermitteln, um dadurch Medikationsfehler zu verhindern. Die ergonomische Gestaltung eines Rollators bestimmt seine Handhabung und ist somit mitverantwortlich für die Sicherheit seiner Nutzenden im Alltag.
Minou Afzali, Professorin für Social Design
Rückblick auf die Veranstaltung «Die Gesundheitsversorgung, die Gesellschaft und die ‹Alten›» vom 23. September 2021
Die erste Veranstaltung in der Medical-Humanities-Reihe «Alt werden» fand im Herbst 2021 statt und diskutierte Vorstellungen des Alters und ihre Realitätseffekte anhand sechs konkreten Inputs von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis.